Guten Abend Berlin, guten Abend an den Rest der Welt!
Heute muss ich kurz überlegen, wo ich anfange. Die letzten 24 Stunden waren wieder voller Höhen und Tiefen, aber das Positive überwiegt definitiv. Heute habe ich seit Langem mal wieder meine Lieblings-Selbsthilfegruppe auf meiner ehemaligen Entgiftungsstation vorgestellt. Was ich dort erleben durfte, war richtig gut für meine Seele.
Ein Freund im Rückfall: Wut auf das System, nicht auf den Menschen
Gestern Abend hat es mich aber nochmal erwischt. Ich sehe auf meiner Lauf-Runde einen letzten sehr guten Freund aus der alten Szene, den ich bei meinem Pola-Entzug vor zwei Jahren kennengelernt hatte. Wir hatten eine Vereinbarung: Vor einem Treffen fragen wir immer „Bist du clean?“. Bei „nein“ wird aufgelegt. Das hat uns gegenseitig geschützt.
Nachdem er durch meinen Weg nach dem Tod meines Hundes selbst motiviert war, es wieder zu versuchen, hatte ich lange nichts von ihm gehört. Und gestern sehe ich ihn, auf dem Weg zu einem Dealer. Er hat mich gesehen, aber ignoriert und ist schnell im Hauseingang verschwunden.
Das hat mich so wütend gemacht. Nicht auf ihn – ich wusste, er schämt sich. Sondern auf den Dealer, der genau wusste, wie gefährdet mein Freund ist und ihn trotzdem beliefert. Es geht nur um den Umsatz. In Berlin kalkulieren die meisten nur noch mit 3 Jahren, dann ist der nächste Konsument tot und ausgepresst. In solchen Momenten muss ich mich zurückhalten, nicht zu aktiv zu werden.
Ich habe dann am Abend noch Kontakte zu Konsumenten gehabt, um eine Art Poker zu spielen und an weitere Infos für meine „Mission“ zu kommen. Ich weiß genau, wie ich reden muss, um an das zu kommen, was ich für meinen Kampf brauche.

Ein normaler Morgen? Arztbesuch mit Augenzwinkern 😉
Heute Morgen ging es dann wieder gut los. Pünktlich um 8 Uhr beim Arzt, um mein Pramiprexol für den Opiat-Affen zu holen. Das Wartezimmer war rappelvoll mit Patienten im Durchschnittsalter von 100. Ich saß da mit meinen Kopfhörern, guter Laune, lackierten Fingernägeln, Lidschatten und Kajal. Ich konnte ihre Gedanken fast hören: „Oh je, unsere Renten sind auf keinen Fall mehr sicher.“ 😂
Als die Ärztin (die mich noch nicht sehen konnte) dann „Frau …“ aufrief, musste ich nur lachen und meinte: „Kein Problem, bei mir passt eh immer beides.“ Die verwirrten, faltigen Gesichter waren unbezahlbar.
Der große Moment: Vorstellung der Selbsthilfegruppe 🤝
Nach der Apotheke ging es dann zur Entzugsstation, um unsere Gruppe vorzustellen. Ich war eine Stunde zu früh da, aber man kennt mich ja schon von meinen täglichen Kaffee-Besuchen. Ich hab mich frech zum Abendbrot dazugesetzt und mit den Patienten geschnackt.
Ein unerwartetes, positives Wiedersehen
Und dann der Gänsehaut-Moment: Ich habe dort die Person wiedergesehen, die damals als mein „Ersatz“ von den Dealern benutzt und wieder in die Abhängigkeit getrieben wurde. Zu sehen, dass er den Absprung geschafft hat und jetzt den richtigen Weg geht, war ein wunderbares Gefühl.
Der wichtigste Skill von allen: Radikale Ehrlichkeit
Die Vorstellung lief super. Ich hab vermutlich wieder gequasselt wie ein Wasserfall, aber ich glaube, man merkt, dass ich weiß, wovon ich spreche. Dann fragte eine junge Dame: „Was nehmt ihr für Skills bei Triggern?“. Und da wurde mir klar: Es gibt nur eine beste Strategie, auf der alles andere aufbaut: Vollkommen offen und ehrlich mit seiner Erkrankung und seinen Rückfällen umgehen. Hätte ich nicht erkannt, dass mir niemand mehr vertraut, wäre ich nie auf diesen Weg gekommen. Ehrlichkeit, egal wie hart, ist der Schlüssel.

Meine harte Wahrheit: Warum du es nicht alleine schaffst ☠️
Der Abend endete wieder mit tollen Gesprächen. Und ich erkenne immer mehr: Der Rausch von echten, cleanen Emotionen ist genau das, was ich immer gesucht habe. Das Gefühl zu leben, Dankbarkeit und Vertrauen zu spüren – das ist besser als jede Droge.
Aber das kannst du nur verstehen, wenn du den großen Schritt wagst. Und ich will dir nichts vormachen: Der Weg ist am Anfang verdammt schwer. Selbst ich kann nicht versprechen, was morgen ist.
Denn Sucht ist eine richtige, chronische Krankheit. Wie Diabetes oder Schizophrenie. Sie ist nicht heilbar, aber man kann sie mit den richtigen Mitteln eindämmen. Und diese Mittel sind Entgiftung, Therapie, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.
Wenn du denkst, du brauchst das nicht und schaffst es allein, dann bist du noch nicht tief genug gefallen und endest da, wo ich war – oder bist bald tot. Sorry, aber das ist die Realität. Ca. 80% der Konsumenten, die ich von der harten Kotti-Szene kannte, sind tot oder schwerbehindert. Sie sitzen im Rollstuhl, können nur noch eine Hand bewegen und reden sich ein, es sei toll, dass man damit noch ein Sterni halten kann. Ich dachte auch immer, da lande ich nie. Aber nicht du kontrollierst die Sucht. Die Sucht kontrolliert dich, solange du diese Schritte nicht gehst.
Ich danke Dir für Deine Zeit in diesem Artikel! Bis morgen!
Häufige Fragen (FAQ) zum Thema Selbsthilfe und der Realität der Sucht
Was ist der Sinn von Selbsthilfegruppen, wenn ich schon in Therapie bin?
Therapie ist professionelle Anleitung durch einen Experten. Eine Selbsthilfegruppe ist Unterstützung durch Gleichgestellte (Peers). Dort triffst du Menschen, die genau verstehen, was du durchmachst, weil sie es selbst erleben oder erlebt haben. Das schafft ein einzigartiges Gefühl von Zugehörigkeit, reduziert Scham und bietet ein soziales Netz für den Alltag, das eine Therapie oft nicht leisten kann.
Wie reagiere ich am besten, wenn ein cleaner Freund einen Rückfall hat?
Es ist wichtig, die Person von der Krankheit zu trennen. Sei wütend auf die Sucht und die Umstände, aber zeige Mitgefühl für den Menschen. Lass ihn wissen, dass du für ihn da bist, wenn er wieder bereit ist, den Kampf aufzunehmen. Gleichzeitig ist es entscheidend, deine eigene Nüchternheit zu schützen, indem du klare Grenzen setzt (z.B. die „Bist du clean?“-Regel vor einem Treffen).
Ist Sucht wirklich eine unheilbare Krankheit?
Viele Fachleute und Betroffene sehen es als eine chronische, unheilbare Krankheit an, ähnlich wie Diabetes. Man kann sie nicht „heilen“ in dem Sinne, dass sie für immer verschwindet. Aber man kann sie durch kontinuierliche Arbeit (Therapie, Selbsthilfe, Skills, Lebensstiländerungen) sehr erfolgreich managen und ein langes, glückliches und cleanes Leben führen. Das Risiko eines Rückfalls bleibt jedoch ein Leben lang bestehen.
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