Die Nadel in der Vene, die Umarmung, die du nie bekamst: Sucht als Bindungsstörung

Die Nadel in der Vene, die Umarmung, die du nie bekamst: Sucht als Bindungsstörung

Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN

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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Kindheitstrauma, Vernachlässigung, unsichere Bindungsmuster und Sucht als Beziehungsersatz.


Nach 28 Jahren Recovery weiß ich, dass meine Sucht nicht mit der ersten Line oder dem ersten Schuss begann. Sie begann viel früher. Mit einer Leere.

Meine ersten Emotionen in Form von Liebe hatte ich tatsächlich nicht von einem Menschen. Ich hatte sie mit ca. 14 Jahren von Ecstasy. Ich hatte eine sehr schwierige Kindheit, ohne emotionale Bindung, ohne ein „Ich hab dich lieb“ oder eine Umarmung. Vermutlich bin ich deswegen schon mein ganzes Leben auf der Jagd nach dem Gefühl der Familie und dem, was damit verbunden ist.

Als ich Ecstasy konsumierte, war sie da, die für mich falsch verstandene wahre Liebe und das Tor zur Hölle der Drogen. Zwar gab es vorher schon Cannabis und Alkohol bei mir, aber das war eher, um Gewalt und andere Dinge zu verdrängen und bei anderen dazuzugehören. Der Ecstasy-Rausch war anders. Er war kein Betäuben, er war ein Fühlen – ein künstliches, aber überwältigendes Gefühl von Liebe und Verbundenheit, das ich nie gekannt hatte.

Heroin sollte eigentlich mein gewolltes Schlusslicht sein. Nachdem ich alles ausprobiert hatte, wollte ich mir damit das Leben nehmen, als ich mein erstes Kind nicht mehr sehen durfte und dadurch der erneute Traum von Familie und einem echten Gefühl der Liebe – der zu meinem Sohn – zerplatzt war.

Diese Geschichte ist der Kern dessen, was wir heute besprechen: Sucht als Bindungsstörung.

Deine Sucht ist keine Affäre mit einer Substanz. Es ist eine tiefsitzende, pathologische Liebesbeziehung zu einem misshandelnden Partner, der den Platz eingenommen hat, der in deiner Kindheit leer geblieben ist. Heilung bedeutet, diese toxische Beziehung zu beenden und zu lernen, zum ersten Mal eine sichere Bindung zu dir selbst aufzubauen.


🎯 Die harten Fakten: Die Epidemie der unsicheren Bindung

📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Epidemie der unsicheren Bindung

Eine unsichere Bindung ist kein seltenes Schicksal, sondern ein massiver Risikofaktor für Sucht:

  • Hohe Prävalenz bei Sucht: Zahlreiche Studien (u.a. im „American Journal of Drug and Alcohol Abuse“) zeigen, dass 70-80% aller Menschen in Suchtbehandlung einen unsicheren Bindungsstil aufweisen – im Vergleich zu ca. 40% in der Allgemeinbevölkerung.
  • Der Ursprung der Bindungstheorie: Entwickelt vom britischen Psychoanalytiker John Bowlby, ist die Bindungstheorie heute eines der am besten erforschten Modelle der Entwicklungspsychologie.
  • Kindheitstrauma (ACEs): Belastende Kindheitserfahrungen wie emotionale Vernachlässigung oder das Aufwachsen mit einem psychisch kranken Elternteil sind die Hauptursachen für die Entwicklung unsicherer Bindungsmuster und erhöhen das Suchtrisiko drastisch.
  • Heilung ist möglich: Bindungsorientierte Psychotherapien, die darauf abzielen, eine „korrigierende emotionale Erfahrung“ in der therapeutischen Beziehung zu schaffen, zeigen nachweislich hohe Wirksamkeit bei der Behandlung von Sucht und komorbiden Störungen.

🔬 Wissenschaft: Die vier Bindungsstile und dein Sucht-Risiko

Deine erste Beziehung zu deinen Eltern hat dein „internes Arbeitsmodell“ für alle zukünftigen Beziehungen programmiert. Man unterscheidet grob vier Stile:

  • Sicher gebunden (ca. 60% der Bev.): Du hast gelernt: „Ich bin okay, du bist okay.“ Du kannst Nähe zulassen und gut allein sein. Geringstes Suchtrisiko.
  • Ängstlich-unsicher gebunden: Du hast gelernt: „Ich bin nicht okay, aber du bist okay.“ Du hast panische Angst vor dem Verlassenwerden, klammerst und brauchst ständige Bestätigung. Drogen werden oft genutzt, um die Trennungsangst zu betäuben.
  • Vermeidend-unsicher gebunden: Du hast gelernt: „Ich bin okay, aber du bist nicht okay.“ Du vermeidest echte Nähe, wirkst unnahbar und machst alles mit dir allein aus. Drogen werden oft genutzt, um die Unabhängigkeit zu untermauern und Gefühle von Einsamkeit zu unterdrücken.
  • Desorganisiert gebunden: Du hast gelernt: „Ich bin nicht okay und du bist nicht okay.“ Dies ist die chaotischste Form, oft Folge von Trauma und Missbrauch. Du sehnst dich nach Nähe, hast aber gleichzeitig panische Angst davor. Das Suchtrisiko ist hier am höchsten, da Substanzen als einziger Weg erscheinen, dieses innere Chaos auszuhalten.

🎭 Wie die Droge zum perfekten, aber misshandelnden Partner wird

Eine Person umarmt eine geisterhafte Figur aus Drogen, als Symbol für die Sucht als Ersatz für eine menschliche Bindung.
Wenn eine sichere menschliche Bindung fehlt, kann die Droge zum perfekten, aber tödlichen Ersatzpartner werden: immer verfügbar, absolut berechenbar und ultimativ zerstörerisch.

Wenn dein inneres Betriebssystem auf „unsichere Bindung“ programmiert ist, lebst du in ständiger emotionaler Anspannung. Die Droge bietet sich als scheinbar perfekte Lösung an und wird zu einem Partner-Ersatz.

⚠️ Die Droge als misshandelnder Partner: Eine toxische Liebesbeziehung

Für ein unsicher gebundenes Gehirn bietet die Substanz scheinbar alles, was in menschlichen Beziehungen gefehlt hat:

  • Absolute Verlässlichkeit: Die Droge ist immer da. Sie verlässt dich nicht. Sie ist zu 100% berechenbar in ihrer Wirkung. Das schafft eine Illusion von Sicherheit.
  • Bedingungslose Akzeptanz: Die Droge stellt keine Fragen und verurteilt dich nicht. Sie nimmt dich so, wie du bist, und bietet sofortigen Trost.
  • Ecstasy als „Liebes-Simulator“: Substanzen wie MDMA (Ecstasy) fluten das Gehirn mit Serotonin und Oxytocin (dem „Bindungshormon“). Für einen jungen Menschen, der nie ein „Ich hab dich lieb“ gehört hat, fühlt sich dieser chemische Rausch wie die Erfüllung der tiefsten Sehnsucht an – die erste, vermeintlich wahre Liebe.
  • Heroin als „finaler Tröster“: Wenn dann die Hoffnung auf echte Liebe im realen Leben zerbricht (wie der Verlust des Kontakts zum eigenen Kind), bietet sich eine Droge wie Heroin als der ultimative, warme Kokon an, der jeden Schmerz betäubt – bis hin zum Wunsch, darin für immer zu verschwinden.
  • Das Problem: Dieser „Partner“ ist ein brutaler Misshandler. Nach der kurzen, liebevollen Phase folgt die kalte Bestrafung: der Entzug, die Scham, die Zerstörung. Aber weil du gelernt hast, dass „Liebe“ unberechenbar und schmerzhaft ist, bleibst du in diesem toxischen Kreislauf gefangen.

🛡️ Safer Use: Lerne, dich selbst zu lieben (und neu zu binden)

Eine Person, die ihr eigenes Spiegelbild umarmt, als Symbol für die Entwicklung von Selbstliebe und einer sicheren Bindung zu sich selbst in der Recovery.
Die Heilung deiner Bindungsstörung beginnt in dem Moment, in dem du aufhörst, die Rettung im Außen zu suchen, und anfängst, dir selbst der sichere Hafen zu sein, den du nie hattest.

Die Heilung dieser tiefen Wunde bedeutet, die toxische Beziehung zur Droge zu beenden und zu lernen, was du nie gelernt hast: eine sichere Bindung aufzubauen. Allen voran zu dir selbst.

🛡️ Safer Use: Wie du lernst, dein eigener sicherer Hafen zu werden

Die Heilung deiner Sucht ist untrennbar mit der Heilung deiner Bindungswunde verbunden. Es geht darum, neue, sichere Erfahrungen zu machen.

  1. Erkenne deinen Bindungsstil: Der erste Schritt ist, zu verstehen, welches „Betriebssystem“ bei dir läuft. Lies dich in die Bindungsstile ein. Allein die Erkenntnis „Ah, deshalb stoße ich Leute immer weg!“ ist ein Game-Changer.
  2. Trauere um das, was du nie hattest: Erlaube dir, wütend und traurig darüber zu sein, dass du als Kind nicht die Sicherheit bekommen hast, die du verdient hättest. Diese Trauerarbeit ist essenziell, um die Vergangenheit loslassen zu können.
  3. Erlebe eine „korrigierende Erfahrung“: Die therapeutische Beziehung ist oft die erste wirklich sichere Bindung im Leben eines Betroffenen. Ein guter Therapeut ist verlässlich, wertschätzend und hält deine Gefühle aus. Diese Erfahrung ist die Blaupause für neue, gesunde Beziehungen.
  4. Praktiziere „Reparenting“: Lerne, der liebevolle und stabile Erwachsene für dein eigenes „inneres Kind“ zu sein. Das bedeutet: Lerne, dich selbst zu trösten, deine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und dir selbst Mitgefühl statt Verurteilung entgegenzubringen.

🤔 Ausführliche FAQ

🤔 Bedeutet eine schwere Kindheit automatisch, dass man eine Bindungsstörung entwickelt?

✅ Nicht automatisch, aber das Risiko ist extrem hoch. Eine unsichere Bindung ist ein signifikanter Risikofaktor. Es gibt Menschen, die trotz schwerer Kindheit Resilienz entwickeln, oft weil es eine andere stabile Bezugsperson (z.B. Oma, Lehrer) gab. Eine sichere Bindung gilt umgekehrt als einer der stärksten Schutzfaktoren gegen psychische Erkrankungen.

❤️ Kann ich meinen Bindungsstil als Erwachsener noch ändern?

✅ Ja, absolut! Das ist die gute Nachricht und das Kernziel vieler Therapieformen. Durch neue, korrigierende Beziehungserfahrungen – insbesondere in einer stabilen Psychotherapie, aber auch in gesunden Freundschaften – kann man lernen, neue, sicherere „interne Arbeitsmodelle“ für Beziehungen zu entwickeln. Es ist harte Arbeit, aber es ist möglich.

🧠 Mein Partner hat eine Bindungsstörung und eine Sucht. Wie kann ich helfen?

✅ Das ist eine extrem schwierige Situation. Das Wichtigste ist: Du kannst nicht sein Therapeut oder seine Rettung sein. Der beste Weg zu helfen ist, selbst so stabil und grenzbewusst wie möglich zu sein und ihn zu ermutigen, sich professionelle Hilfe für BEIDE Probleme zu suchen. Und – ganz entscheidend – dir selbst Unterstützung zu holen (z.B. in Angehörigengruppen), um nicht in co-abhängige Muster zu geraten.

💪 Ich hatte eine gute Kindheit. Kann ich trotzdem eine Bindungsstörung haben?

✅ Ja. Manchmal sind die Verletzungen subtiler. „Gute Kindheit“ bedeutet oft nur materielle Sicherheit. Aber emotionale Vernachlässigung kann auch in „guten“ Familien vorkommen, wenn Eltern z.B. selbst emotional unreif, depressiv oder überarbeitet waren und keine Zeit für die emotionalen Bedürfnisse des Kindes hatten. Die Abwesenheit von Missbrauch bedeutet nicht automatisch die Anwesenheit von sicherer Bindung.

😔 Was ist der Unterschied zwischen Bindungsstörung und Co-Abhängigkeit?

✅ Eine Bindungsstörung ist die tiefere Wurzel, das in der Kindheit gelernte Betriebssystem für Beziehungen. Co-Abhängigkeit ist eine spezifische Verhaltensweise, die aus diesem Betriebssystem erwachsen kann. Jemand mit einer ängstlichen Bindungsstörung neigt extrem zur Co-Abhängigkeit, weil er panische Angst vor dem Verlassenwerden hat. Man kann sagen: Die Bindungsstörung ist das ‚Warum‘, die Co-Abhängigkeit ist das ‚Wie‘.

📚 Lesetipp zur Vertiefung

📖 Lesetipp zur Vertiefung

Warum wir uns immer in den Falschen verlieben (Original: „Attached“) von Amir Levine & Rachel S.F. Heller

Dieses Buch ist der Goldstandard, um die moderne Bindungstheorie auf erwachsene Beziehungen anzuwenden. Es erklärt die verschiedenen Bindungsstile (sicher, ängstlich, vermeidend) auf eine extrem verständliche und praxisnahe Weise. Es ist ein Augenöffner, um die eigenen Beziehungsmuster und die des Partners zu verstehen.

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🎬 NeelixberliN Fazit

Der Schatten eines einsamen Kindes hat die Form eines erwachsenen Süchtigen, als Symbol dafür, wie die Wunden der Kindheit die Sucht im Erwachsenenalter formen.
Deine Sucht hat nicht begonnen, als du die erste Droge nahmst. Sie begann in dem Moment, in dem du dich als Kind allein und unsicher gefühlt hast.

Meine Suchtkarriere begann mit der Suche nach Liebe in einer Pille. Sie eskalierte zu dem Wunsch, den Verlust von Liebe mit einer Nadel zu beenden. Es war eine einzige, lange Flucht vor dem Schmerz einer Kindheit ohne sichere Bindung.

Die Sucht zu beenden, war wie eine schmerzhafte Trennung von meinem misshandelnden, aber einzigen verlässlichen Partner. Die wahre Heilung begann aber erst, als ich aufhörte, im Außen nach der perfekten Bindung zu suchen – in neuen Partnern, in der Anerkennung von Gruppen, im Erfolg – und stattdessen anfing, sie in mir selbst aufzubauen. Als ich lernte, der verlässliche, liebevolle Erwachsene für den 14-jährigen Jungen in mir zu sein, der damals so verzweifelt war.

Es ist der lange, harte Weg, der liebevolle und verlässliche Erwachsene für dein eigenes inneres, verletztes Kind zu werden. Lerne, der sichere Hafen zu sein, den du selbst nie hattest. Dann brauchst du keine giftigen Ersatzhäfen mehr.


📖 Quellen & Referenzen

  • Bowlby, John (1969). Attachment and Loss, Vol. 1: Attachment. (Das Grundlagenwerk der Bindungstheorie).
  • Ainsworth, M. D. S., et al. (1978). Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation. (Die Forschung, die die verschiedenen Bindungsstile identifizierte).
  • Flores, P. J. (2004). Addiction as an Attachment Disorder. (Ein Schlüsselwerk, das Sucht direkt durch die Linse der Bindungstheorie betrachtet).
  • Centers for Disease Control and Prevention (CDC): Forschung zu Adverse Childhood Experiences (ACEs) und deren Langzeitfolgen.

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Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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