Neurodiversität & Sucht: Wenn Drogen die einzige Stille im Kopf sind

Neurodiversität & Sucht: Wenn Drogen die einzige Stille im Kopf sind

Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN

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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Autismus-Spektrum-Störung, Neurodiversität, Reizüberflutung und Sucht als Selbstmedikation.


Nach 28 Jahren Sucht & Recovery habe ich Menschen getroffen, die anders waren. Sie waren nicht „mehr“ oder „weniger“ süchtig, aber ihr Kampf schien auf einem anderen Betriebssystem zu laufen. Es waren die „seltsamen“, die „komplizierten“ Fälle in den Gruppen. Die, die Small Talk hassten, die bei lauter Musik oder grellem Licht fast durchdrehten, die soziale Regeln nicht intuitiv verstanden.

Oft wurden sie als „nicht willig“, „arrogant“ oder „sozial inkompetent“ abgestempelt, weil sie nicht in das Schema passten. Heute weiß ich: Sie waren nicht „nicht willig“, sie waren neurodivergent. Und wir haben jahrelang versucht, ihre Hardware-Probleme mit der falschen Software zu lösen.

Für die meisten Menschen ist die Welt anstrengend. Für einen neurodivergenten Menschen, z.B. im Autismus-Spektrum, ist sie oft eine unerträgliche, ohrenbetäubende Reiz-Explosion. Wenn jeder Tag ein Kampf gegen diesen Lärm ist, wird die Droge, die endlich Stille verspricht, nicht zur Versuchung – sie wird zur logischen, scheinbar einzigen Überlebensstrategie.

Für einen neurodivergenten Menschen ist die Sucht oft keine Flucht vor dem Leben, sondern eine verzweifelte und absolut logische Flucht vor der unerträglichen Lautstärke der Welt. Die Droge ist nicht das Problem – sie ist die selbstgebaute, aber hochgiftige Lärmschutz-Kopfhörer.


🎯 Die harten Fakten: Neurodiversität und das erhöhte Suchtrisiko

📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die übersehene Doppeldiagnose

Die Forschung zum Zusammenhang von Autismus und Sucht ist noch jung, aber die Tendenzen sind klar:

  • Erhöhtes Risiko bei Komorbidität: Während Autismus allein nicht zwangsläufig das Suchtrisiko erhöht, zeigen Studien (u.a. im „The Lancet Psychiatry“), dass autistische Erwachsene mit ko-occurring ADHS ein signifikant höheres Risiko für eine Substanzgebrauchsstörung haben als die Allgemeinbevölkerung.
  • Soziale Angst als Brücke: Bis zu 50% der Erwachsenen im Autismus-Spektrum leiden auch an einer klinischen Sozialphobie. Diese extreme soziale Angst ist einer der stärksten bekannten Prädiktoren für die „Selbstmedikation“ mit Alkohol oder Benzodiazepinen.
  • Sensorische Verarbeitung als Faktor: Menschen im Spektrum berichten überdurchschnittlich oft von einer sensorischen Über- oder Unterempfindlichkeit (Sensory Processing Disorder). Die Sucht wird oft als gezielter Versuch beschrieben, diesen unerträglichen Zustand zu regulieren.
  • Fehldiagnosen sind häufig: Viele autistische Menschen, insbesondere Frauen, erhalten oft jahrelang Fehldiagnosen (z.B. Borderline, soziale Phobie), bevor der zugrundeliegende Autismus erkannt wird. Ihre Sucht wird behandelt, aber die eigentliche Ursache bleibt im Dunkeln.

🔬 Wissenschaft: Was „anders verkabelt“ wirklich bedeutet

Autismus ist keine Krankheit, sondern eine neurologische Variante. Das Gehirn verarbeitet Informationen anders, was zu spezifischen Herausforderungen in einer neurotypischen Welt führt:

  • Sensorische Verarbeitung: Stell dir vor, der Lautstärkeregler für die Welt steht bei dir immer auf 11. Geräusche, Lichter, Gerüche sind nicht nur „störend“, sondern körperlich schmerzhaft. Oder umgekehrt: Du spürst kaum etwas und suchst nach extremer Stimulation. Drogen werden zum externen Lautstärkeregler.
  • Das „Double Empathy Problem“: Der Forscher Damian Milton hat diese Theorie geprägt. Es ist nicht so, dass autistische Menschen keine Empathie haben. Vielmehr gibt es eine „Übersetzungsschwierigkeit“ zwischen neurodivergenten und neurotypischen Menschen in beide Richtungen. Neurotypische verstehen die autistische Kommunikation nicht, und umgekehrt. Das führt zu ständigen Missverständnissen und sozialer Erschöpfung („Masking Fatigue“).
  • Exekutive Funktionen: Viele Menschen im Spektrum haben (ähnlich wie bei ADHS) Schwierigkeiten mit exekutiven Funktionen – also dem Planen, Organisieren und der Regulation von Emotionen und Impulsen. Drogen fühlen sich wie eine „Krücke“ an, um diese Defizite kurzfristig auszugleichen.

🎭 Die Logik der Selbstmedikation: Wenn die Droge zum perfekten Werkzeug wird

Eine Person, die sich mit Kopfhörern aus Drogensymbolen vor einer lauten Welt schützt, als Symbol für die Selbstmedikation bei Neurodiversität und Reizüberflutung.
Für ein überreiztes Gehirn fühlt sich die dämpfende Wirkung von Substanzen wie der erlösende Moment an, wenn man in einer lauten Welt endlich Noise-Cancelling-Kopfhörer aufsetzt.

Die Sucht entsteht hier oft nicht aus der Suche nach einem hedonistischen „Kick“, sondern aus dem tiefen Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Die Wahl der Droge ist oft eine unbewusst perfekte „Lösung“ für ein spezifisches neurodivergentes Problem.

⚠️ Die perfekte, aber giftige „Lösung“: Welche Droge für welches Problem?

Die Wahl der Substanz ist oft ein unbewusst logischer Versuch, ein spezifisches autistisches Problem zu „behandeln“:

  • Alkohol & Benzodiazepine (der „Sozial-Filter“): Sie sind das perfekte Werkzeug, um die soziale Angst zu dämpfen. Sie machen Small Talk erträglich, reduzieren die Angst, etwas Falsches zu sagen, und filtern die Reizüberflutung auf einer Party.
  • Cannabis & Opiate (der „Kokon“): Sie sind die ultimativen „Lärmschutz-Kopfhörer“. Sie dämpfen die sensorische Überreizung, verlangsamen die rasenden Gedanken und schaffen einen schützenden, warmen Kokon vor der als feindselig empfundenen Außenwelt.
  • Stimulanzien (der „Fokus-Booster“): Paradoxerweise können Amphetamine oder Kokain manchen autistischen Menschen helfen, die soziale Erschöpfung zu überwinden, sich besser zu konzentrieren und in sozialen Situationen „performen“ zu können (Masking).

🛡️ Safer Use: Recovery für ein neurodivergentes Gehirn

Eine Person in einer selbst geschaffenen, sicheren und ruhigen Umgebung, während draußen ein Sturm tobt. Symbol für Umwelt-Management und Selbstfürsorge in der neurodivergenten Recovery.
Neurodivergente Recovery bedeutet nicht, dich an die laute Welt anzupassen. Es bedeutet, zu lernen, wie du dir deine eigene, passende und sichere Welt erschaffst.

Eine reine Suchttherapie, die die neurodivergenten Bedürfnisse ignoriert, ist zum Scheitern verurteilt, weil sie die Ursache des Problems nicht behandelt. Du brauchst einen angepassten Ansatz.

🛡️ Safer Use: Passe die Recovery an DICH an, nicht umgekehrt

Standard-Recovery-Programme können für neurodivergente Menschen die Hölle sein. Du brauchst einen angepassten Ansatz.

  1. Finde deine Nische, nicht die Norm: Große, laute Selbsthilfegruppen sind oft pure Reizüberflutung. Suche gezielt nach kleinen, ruhigen Gruppen, Online-Meetings oder einer 1-zu-1-Therapie, die auf dich eingeht.
  2. Umwelt-Management statt Willenskraft: Deine Hauptaufgabe ist nicht, Reize „auszuhalten“, sondern sie klug zu managen. Noise-Cancelling-Kopfhörer, Sonnenbrillen, feste Routinen und geplante Rückzugszeiten sind keine Schwäche, sondern deine wichtigsten Recovery-Werkzeuge.
  3. „Stimming“ ist ein Skill, keine Macke: Selbst-stimulierendes Verhalten (wie Wippen, mit den Fingern spielen) ist eine natürliche, gesunde Art deines Nervensystems, sich zu regulieren. Unterdrücke es nicht, sondern nutze es bewusst als Skill, um Stress abzubauen.
  4. Suche neurodiversitäts-affirmative Hilfe: Du brauchst einen Therapeuten, der Autismus versteht und dich nicht „reparieren“ will. Er muss deine Sucht im Kontext deiner neurologischen Veranlagung sehen und dir dabei helfen, gesunde Alternativen für deine spezifischen Bedürfnisse zu finden.

🤔 Ausführliche FAQ

🤔 Sind alle neurodivergenten Menschen suchtgefährdet?

✅ Nein, nicht alle. Aber bestimmte neurodivergente Merkmale, wie eine erhöhte sensorische Empfindlichkeit, soziale Ängste oder Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation (wie bei Autismus oder ADHS), sind anerkannte Risikofaktoren, die die Anfälligkeit für eine Suchtentwicklung durch Selbstmedikation erhöhen können.

❤️ Wo finde ich spezialisierte Hilfe für die Doppeldiagnose Autismus und Sucht?

✅ Das ist leider immer noch eine große Herausforderung in Deutschland. Ein guter erster Schritt sind spezialisierte Autismus-Therapiezentren oder große Suchthilfeträger (wie Caritas, Diakonie), die oft auch Erfahrung mit Komorbiditäten haben. Wichtig ist, bei der Anfrage direkt und explizit nach Erfahrung mit der Doppeldiagnose „Autismus-Spektrum und Sucht“ zu fragen.

🧠 Ich glaube, ich bin im Spektrum, habe aber Angst vor einer Diagnose. Was soll ich tun?

✅ Diese Angst ist verständlich. Aber eine Diagnose ist kein Stempel, sondern eine Gebrauchsanweisung für dich selbst. Sie kann eine immense Erleichterung sein, weil du endlich verstehst, warum du so bist, wie du bist. Sie gibt dir Zugang zu spezialisierter Hilfe und erlaubt dir, nachsichtiger mit dir selbst zu sein. Der Weg zur Diagnostik ist ein mutiger Schritt zur Selbsterkenntnis.

💪 Wie erkläre ich meiner neurotypischen Selbsthilfegruppe meine Bedürfnisse?

✅ Mit klaren, einfachen Ich-Botschaften, ohne dich zu rechtfertigen. „Ich brauche nach dem Meeting kurz 10 Minuten für mich allein, weil die vielen Gespräche mich sehr anstrengen.“ Oder: „Ich schaue manchmal weg, wenn du redest, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht zuhöre. Ich kann mich so besser konzentrieren.“ Du erziehst dein Umfeld langsam dazu, deine Bedürfnisse zu respektieren.

😔 Heißt das, ich passe nie wirklich in diese Welt?

✅ Es heißt, dass du aufhören kannst, nach den Regeln einer Welt zu spielen, die nicht für dich gemacht ist. Du musst nicht überall reinpassen. Deine Aufgabe ist es, deine Nische zu finden – die Orte, die Menschen, die Jobs, die zu deinem Betriebssystem passen. Es geht nicht um Anpassung, es geht um die Gestaltung eines passenden Lebens.

📚 Lesetipp zur Vertiefung

📖 Lesetipp zur Vertiefung

Unmasking Autism von Dr. Devon Price

Ein bahnbrechendes Buch, das erklärt, wie und warum viele autistische Menschen (insbesondere Frauen und trans Personen) lernen, ihre wahren Züge hinter einer „Maske“ der Normalität zu verbergen. Es ist ein kraftvolles Plädoyer für ein authentisches, neurodivergentes Leben und bietet unzählige Aha-Momente für alle, die sich „anders“ fühlen.

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🎬 NeelixberliN Fazit

Ein buntes, anders geformtes Puzzleteil passt perfekt in ein graues Puzzle, als Symbol für die Akzeptanz und Stärke von Neurodiversität.
Du bist nicht das falsche Puzzleteil. Du hast vielleicht nur versucht, dich in das falsche Puzzle zu pressen. Finde das Puzzle, in das du passt.

Wenn du dich in diesem Text wiedererkennst, ist das Wichtigste, was du wissen musst: Du bist nicht kaputt, du bist anders verkabelt. Deine Sucht war kein moralisches Versagen, sondern ein verzweifelter, aber brillanter Versuch deines Systems, in einer Welt zu überleben, die nicht für dein Betriebssystem gemacht ist.

Höre auf, dich dafür zu hassen. Beginne, deine Bedürfnisse zu verstehen und zu respektieren.

Echte Recovery für dich bedeutet nicht, dich zu „reparieren“, damit du in die neurotypische Welt passt. Sie bedeutet nicht, zu lernen, Small Talk zu lieben oder laute Partys zu genießen. Echte Recovery bedeutet, die Welt um dich herum so zu gestalten und die Werkzeuge zu finden, dass sie zu dir passt. Es ist der Weg, dir selbst die Erlaubnis zu geben, so zu sein, wie du bist, und dir die Ruhe und Sicherheit zu schaffen, die du brauchtest, als du zur Droge gegriffen hast. Das ist deine Befreiung.


📖 Quellen & Referenzen

  • American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). (Enthält die offiziellen diagnostischen Kriterien für Autismus-Spektrum-Störung und Sucht).
  • Milton, Damian (2012). „On the Ontological Status of Autism: the ‚Double Empathy Problem‘.“ Disability & Society. (Grundlagenartikel zum „Double Empathy Problem“).
  • Journal of Autism and Developmental Disorders: Führendes Fachjournal mit zahlreichen Studien zur Komorbidität von Autismus, Angststörungen und Substanzgebrauchsstörungen.
  • Autismus Deutschland e.V.: Größter deutscher Verband zur Förderung und Unterstützung von Menschen mit Autismus und ihren Familien.

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Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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