Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Bindungsstörung, Kindheitstrauma, Vernachlässigung und deren direkten Zusammenhang mit Sucht und Ausbeutung.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery lerne ich immer noch die Lektionen meiner frühesten Kindheit. Eine davon ist die schwerste: gesunde Distanz. Ich war jahrelang der Typ, der Fremden in der U-Bahn nach fünf Minuten seine ganze Lebensgeschichte erzählt hat. Der sich in jede Gruppe, jede Szene, jeden Kult sofort mit Haut und Haaren reingeworfen hat, in der verzweifelten Hoffnung, endlich dazuzugehören. Ich dachte, das wäre „offen“, „herzlich“ und „authentisch“.
Die Wahrheit ist: Es war eine Krankheit. Eine Bindungsstörung, die in der frühesten Kindheit entsteht. Ich hatte nie gelernt, wem man vertrauen kann und wem nicht. Meine innere Alarmanlage war kaputt. Für mich gab es keine Fremden, nur potenzielle Retter.
Diese anerzogene Grenzenlosigkeit hat mich zur perfekten Beute für die Drogenszene gemacht. Ich lief mit offenen Armen in jede Falle, weil ich die Gefahr nicht spürte. Ich vertraute den Falschen, weil ich nie gelernt hatte, wie sich echte, sichere Bindung anfühlt. Meine Sucht war nicht nur eine Flucht vor dem Schmerz – sie war die direkte Konsequenz meiner kaputten inneren Grenzen.
Deine Distanzlosigkeit ist kein Charakterzug, sondern eine tiefe Wunde aus deiner Kindheit. Deine Sucht war nicht nur eine Flucht vor der inneren Leere, sondern auch die fast logische Konsequenz einer fehlenden inneren Alarmanlage, die dich vor den falschen Menschen und den falschen Substanzen hätte warnen sollen.
🎯 Die harten Fakten: Die Verbindung von Bindungstrauma und Sucht
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die unsichtbare Wunde der Kindheit
Eine gestörte Bindung in der Kindheit ist einer der größten Risikofaktoren für spätere psychische Probleme:
- Hohe Korrelation mit Sucht: Studien im „American Journal of Drug and Alcohol Abuse“ zeigen, dass unsichere Bindungsmuster in der Kindheit signifikant mit einem höheren Risiko für die Entwicklung einer Substanzgebrauchsstörung im Erwachsenenalter korrelieren.
- Diagnostisches Manual (DSM-5): Die „Bindungsstörung mit sozialer Enthemmung“ (Disinhibited Social Engagement Disorder) ist eine anerkannte Diagnose, die auf schwere soziale Vernachlässigung in den ersten Lebensjahren zurückgeführt wird.
- Kindesvernachlässigung als Ursache: Die Erfahrung von Vernachlässigung ist eine der häufigsten Formen von Kindheitstrauma. Die ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) belegt, dass solche Traumata das Risiko für Sucht, Depression und riskantes Verhalten drastisch erhöhen.
- Therapie ist wirksam: Moderne, bindungsorientierte Therapieansätze zeigen gute Erfolge bei der Behandlung von Erwachsenen mit Bindungsstörungen, da sie im geschützten Rahmen der Therapie eine „korrigierende emotionale Erfahrung“ ermöglichen.
🔬 Wissenschaft: Warum dein innerer Kompass verstellt ist (Bindungstheorie)
Die Ursache für dieses Verhalten liegt in der Bindungstheorie, die von John Bowlby entwickelt wurde. Sie besagt:
- Die „sichere Basis“: Ein Kind braucht in den ersten Lebensjahren mindestens eine konstante, verlässliche und liebevolle Bezugsperson, die seine „sichere Basis“ ist. Von dieser Basis aus erkundet es die Welt.
- Das „Fremdeln“: Aus dieser sicheren Bindung heraus entwickelt ein Kind eine gesunde Skepsis gegenüber Fremden. Es lernt, zwischen „sicher“ (Mama, Papa) und „potenziell unsicher“ (Fremder) zu unterscheiden.
- Die gestörte Bindung: Wenn diese sichere Basis fehlt (durch Vernachlässigung, Heimaufenthalte, süchtige Eltern), lernt das Kind diese Unterscheidung nie. Es entwickelt die Überlebensstrategie, wahllos bei JEDEM Erwachsenen Nähe und Versorgung zu suchen, in der Hoffnung, endlich eine Bindung zu finden.
- Die Folge im Erwachsenenalter: Diese als Kind überlebenswichtige Strategie wird im Erwachsenenleben zur massiven Belastung. Die innere Alarmanlage für soziale Gefahren ist defekt, was zu dem beschriebenen distanzlosen und riskanten Verhalten führt.
🎭 Der fatale Weg in die Sucht: Warum du zur leichten Beute wurdest

Menschen mit einer enthemmten Bindungsstörung haben ein massiv erhöhtes Suchtrisiko. Ihre fehlenden Grenzen machen sie zum perfekten Ziel.
⚠️ Die 3 Stufen in den Absturz: Wie deine Offenheit zur Waffe gegen dich wird
Deine antrainierte Grenzenlosigkeit macht dich in der Drogenszene zur perfekten Beute. Der Weg in die Sucht verläuft oft in drei Stufen:
- Die offene Tür zur Szene: Mit deiner distanzlosen, überfreundlichen Art bist du ein leichtes Ziel. Du vertraust zu schnell, erzählst zu viel und wirst unbemerkt zum nützlichen Instrument für Dealer und andere ausbeuterische „Freunde“.
- Die Illusion von Familie: Die Drogenszene bietet oft eine scheinbar bedingungslose Akzeptanz und ein intensives Gruppengefühl. Für jemanden, der sein Leben lang nach Zugehörigkeit sucht, fühlt sich das wie die Familie an, die man nie hatte – eine fatale Illusion.
- Die Betäubung der Leere: Hinter der gesprächigen Fassade steckt eine tiefe innere Leere und der chronische Schmerz der fehlenden Ur-Bindung. Substanzen werden zur perfekten Medizin, um dieses Loch kurzfristig zu füllen und eine künstliche Wärme zu erzeugen.
🛡️ Safer Use: Die Kunst der gesunden Distanz neu lernen

Die Heilung dieser tiefen Wunde ist ein langer Weg, aber er ist möglich. Es geht darum, als Erwachsener das nachzulernen, was dir als Kind verwehrt wurde: Sicherheit, Grenzen und gesunde Bindung.
🛡️ Safer Use: Wie du lernst, die Tür zu deinem Inneren zu bewachen
Du musst als Erwachsener lernen, dein eigener, liebevoller Türsteher zu sein. Das ist harte Arbeit, aber sie ist die Grundlage für jede stabile Beziehung – auch zu dir selbst.
- Psychoedukation (Wissen ist Macht): Der erste Schritt ist, zu verstehen, dass dein Verhalten kein Charakterfehler ist, sondern ein Trauma-Symptom. Dieses Wissen allein nimmt schon einen Großteil der Scham.
- Grenzen im Körper spüren lernen: Beginne damit, auf die Signale deines Körpers zu achten. Wann fühlst du dich in einem Gespräch unwohl? Wann verspannt sich dein Bauch? Dein Körper weiß oft vor deinem Kopf, wenn eine Grenze überschritten wird. Lerne, ihm wieder zuzuhören.
- Das „Nein“ trainieren (im Kleinen): Übe, „Nein“ zu sagen, bei kleinen, ungefährlichen Dingen. „Nein, danke, heute keinen Kaffee.“ „Nein, ich kann heute Abend nicht.“ Jeder kleine Akt des Grenzen-Setzens stärkt deinen „Selbstschutz-Muskel“.
- Suche dir eine sichere Bindungserfahrung: Der effektivste Weg, um Bindung zu heilen, ist eine neue, sichere Bindungserfahrung. Die Beziehung zu einem guten Therapeuten ist oft die erste, absolut verlässliche und grenzwahrende Beziehung im Leben eines Betroffenen und kann als „Blaupause“ für zukünftige Freundschaften dienen.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Ist jemand, der sehr offen und extrovertiert ist, automatisch distanzlos?
✅ Nein, absolut nicht. Extrovertierte Menschen tanken Energie aus sozialen Kontakten, haben aber in der Regel gesunde Grenzen und ein gutes Gespür für soziale Situationen. Eine Person mit einer enthemmten Bindungsstörung handelt nicht aus Stärke, sondern aus einem tiefen, unbewussten Bedürfnis nach Bindung. Ihr Verhalten wirkt oft unangemessen, zu schnell zu intim und sie kann Gefahrensituationen nicht richtig einschätzen.
❤️ Kann man als Erwachsener lernen, gesunde Grenzen zu setzen, wenn man es als Kind nie hatte?
✅ Ja, definitiv! Das ist ein zentrales Ziel in vielen Psychotherapien. Es ist ein schwieriger und langer Prozess, weil man gegen die tiefsten inneren Programmierungen arbeitet. Aber es ist möglich, durch bewusste Übung und neue, sichere Beziehungserfahrungen (z.B. in der Therapie) zu lernen, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu schützen.
🧠 Wie hängt das mit dem Thema „Co-Abhängigkeit“ zusammen?
✅ Es gibt große Überschneidungen. Während ein Co-Abhängiger sich oft auf eine spezifische (süchtige) Person fixiert und deren Bedürfnisse über die eigenen stellt, ist die Distanzlosigkeit einer enthemmten Bindungsstörung oft „ungezielter“. Die Person sucht bei vielen verschiedenen, auch fremden Menschen nach schneller, intensiver Nähe. Beide Verhaltensweisen entspringen aber einem Mangel an Selbstwert und gesunden Grenzen.
💪 Ich erkenne mich wieder. Heißt das, ich kann niemals normale Freundschaften haben?
✅ Doch, absolut. Es bedeutet nur, dass du bewusst lernen musst, was andere intuitiv gelernt haben. Die Heilung dieser Wunde führt oft sogar zu besonders tiefen und bewussten Freundschaften, weil du genau weißt, wie wertvoll echtes Vertrauen und gesunde Grenzen sind. Es ist ein steiniger, aber lohnender Weg.
😔 Mein Partner hat dieses distanzlose Verhalten. Wie kann ich ihm helfen, ohne ihn zu verletzen?
✅ Indem du selbst extrem klar und liebevoll in deinen Grenzen bist. Du bist der „Trainingspartner“ für gesunde Distanz. Das bedeutet: Sein Verhalten nicht persönlich nehmen, aber es auch nicht zu akzeptieren. Sage klar, was für dich okay ist und was nicht („Ich liebe dich, aber es fühlt sich für mich nicht gut an, wenn du unsere privaten Probleme mit der Kassiererin besprichst“). Dein stabiles, grenzwahrendes Verhalten ist die beste Hilfe, die du ihm geben kannst.
🎬 NeelixberliN Fazit

Jahrelang habe ich meine Distanzlosigkeit für eine Stärke gehalten. Ich war stolz darauf, so „unvoreingenommen“ und „offen“ zu sein. Ich habe nicht verstanden, dass es ein Trauma-Symptom war. Ein verzweifelter Schrei nach der Bindung und Sicherheit, die ich nie bekommen habe.
Die Recovery war für mich nicht nur der Entzug von den Drogen. Es war der schmerzhafte Prozess, eine emotionale Haut zu entwickeln. Zu lernen, dass „Nein“ ein vollständiger und gültiger Satz ist. Zu lernen, dass nicht jeder, der freundlich ist, auch gut für mich ist. Zu lernen, dass wahre Intimität nicht durch sofortige Selbstoffenbarung, sondern durch langsam wachsendes Vertrauen entsteht.
Wenn du dich in diesem Artikel wiedererkennst: Sei nachsichtig mit dir. Du hast überlebt, so gut du konntest, mit einer kaputten Alarmanlage. Es ist nicht deine Schuld. Aber es ist heute deine Verantwortung, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Der Weg aus der Sucht ist für dich untrennbar mit dem Erlernen von gesunden Grenzen und echter, sicherer Selbstliebe verbunden. Fang an, deinen Zaun zu bauen. Du entscheidest, wer reindarf.
📚 Quellen & Referenzen
- Bowlby, John (1969). Attachment and Loss, Vol. 1: Attachment. (Das Grundlagenwerk der Bindungstheorie).
- American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). (Enthält die offiziellen diagnostischen Kriterien für die „Disinhibited Social Engagement Disorder“).
- Journal of Abnormal Child Psychology: Diverse Studien zum Zusammenhang von früher Vernachlässigung, Bindungsstörungen und späteren psychischen Erkrankungen.
- National Center for PTSD: Informationen zum Zusammenhang von Entwicklungstrauma und späteren Bindungsproblemen.
📖 Lesetipp zur Vertiefung
Das Kind in dir muss Heimat finden von Stefanie Stahl
Bestseller-Autorin und Psychologin Stefanie Stahl erklärt in diesem wegweisenden Buch, wie Verletzungen aus der Kindheit („das Schattenkind“) unser heutiges Verhalten und unsere Beziehungen prägen. Es ist das perfekte Werkzeug, um die Wurzeln von Bindungsstörungen und Co-Abhängigkeit zu verstehen und durch die Arbeit mit dem „inneren Kind“ aktiv zu heilen. Ein absolutes Muss für jeden, der die Muster seiner Vergangenheit durchbrechen will.
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