Sucht und Prokrastination (aufschieben) – zwei Begriffe, die auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammengehören. Doch wer genauer hinsieht, erkennt schnell, dass es zwischen diesen beiden Phänomenen eine enge Verbindung gibt. Süchtige neigen oft dazu, Dinge aufzuschieben, sei es der Gang zur Therapie, die Suche nach einem Job oder einfach nur alltägliche Aufgaben. Doch warum ist das so? In diesem Blogbeitrag wollen wir uns genauer mit den Ursachen und Auswirkungen von Prokrastination bei Suchtkranken auseinandersetzen und hilfreiche Tipps zur Überwindung geben.
Prokrastination – mehr als nur Faulheit
Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass Prokrastination nicht gleichbedeutend mit Faulheit ist. Faulheit beschreibt in der Regel einen Zustand der Trägheit und des Mangels an Motivation, während Prokrastination ein aktives Vermeiden von Aufgaben ist, das oft mit negativen Emotionen und innerem Widerstand einhergeht. Man könnte sagen, dass Faulheit passiv ist, während Prokrastination aktiv ist. Prokrastination ist ein komplexes Verhalten, das verschiedene Ursachen haben kann. Oftmals sind es Ängste, Unsicherheiten oder auch ein geringes Selbstwertgefühl, die dazu führen, dass Menschen Aufgaben vor sich herschieben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das sogenannte „Ersatzverhalten“ oder die „Ersatztätigkeiten“. Dies beschreibt die Tendenz, sich mit anderen Tätigkeiten abzulenken, um die eigentliche Aufgabe zu vermeiden. Das Paradoxe daran ist, dass diese Ersatztätigkeiten oft ebenfalls unangenehm oder unwichtig sind, aber im Vergleich zur eigentlichen Aufgabe als weniger belastend empfunden werden. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Süchtiger lieber stundenlang seine Wohnung putzt, anstatt sich endlich um seine Therapieanmeldung zu kümmern.
Die Wissenschaft unterscheidet außerdem zwischen zwei Arten von Prokrastination: „State Procrastination“ und „Trait Procrastination“. State Procrastination beschreibt ein situationsbedingtes Aufschieben, das durch einen Motivationskonflikt in einer bestimmten Situation ausgelöst wird. Trait Procrastination hingegen ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich in einem generellen Hang zum Aufschieben äußert.
Bei Süchtigen kommen noch weitere Faktoren hinzu, die das Aufschieben begünstigen können:
- Angst vor Veränderung: Der Weg aus der Sucht ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Süchtige müssen sich ihren Problemen stellen, alte Gewohnheiten ablegen und neue Verhaltensweisen erlernen. Diese Veränderungen können Angst machen und dazu führen, dass Betroffene wichtige Schritte aufschieben.
- Schuldgefühle und Scham: Sucht ist oft mit Schuldgefühlen und Scham verbunden. Manche Süchtige schämen sich für ihr Verhalten und haben Angst vor der Verurteilung durch andere. Dies kann dazu führen, dass sie sich zurückziehen und wichtige Aufgaben, wie beispielsweise die Therapie, aufschieben.
- Mangelnde Selbstkontrolle: Suchtmittel beeinflussen das Belohnungssystem im Gehirn und können die Selbstkontrolle beeinträchtigen. Süchtige haben oft Schwierigkeiten, ihre Impulse zu kontrollieren und langfristige Ziele zu verfolgen. Dies kann sich auch auf andere Lebensbereiche auswirken und zu Prokrastination führen.
- Negative Emotionen: Süchtige kämpfen oft mit negativen Emotionen wie Angst, Depressionen oder Frustration. Diese Emotionen können die Motivation rauben und dazu führen, dass Betroffene Aufgaben aufschieben, die ihnen unangenehm sind.
- Mangelnde Selbststeuerung und Selbstregulation: Studien deuten darauf hin, dass Prokrastination mit einem Mangel an Selbstkontrolle und Selbstregulation zusammenhängen kann. Diese Fähigkeiten werden in der Regel in der Kindheit erlernt, und ein Defizit in diesen Bereichen kann dazu führen, dass Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Impulse zu kontrollieren und Aufgaben zu erledigen.
Die Rolle von Dopamin
Eine wichtige Rolle bei Sucht und Prokrastination spielt der Neurotransmitter Dopamin. Dopamin ist ein Botenstoff im Gehirn, der für Motivation, Belohnung und Vergnügen zuständig ist. Suchtmittel führen zu einer erhöhten Ausschüttung von Dopamin, was zu einem starken Glücksgefühl führt. Gleichzeitig werden die Dopaminrezeptoren im Gehirn unempfindlicher, so dass Süchtige immer höhere Dosen des Suchtmittels benötigen, um den gleichen Effekt zu erzielen.
Auch bei Prokrastination spielt Dopamin eine Rolle. Wenn wir Aufgaben aufschieben, die uns unangenehm sind, und stattdessen angenehmen Tätigkeiten nachgehen, wird Dopamin ausgeschüttet. Unser Belohnungssystem im Gehirn bevorzugt kurzfristige Belohnungen, weshalb wir uns eher angenehmen, unmittelbar befriedigenden Tätigkeiten zuwenden. Dies führt zu einem kurzfristigen Glücksgefühl und verstärkt das Prokrastinationsverhalten. Es entsteht ein Teufelskreis: Je öfter wir Aufgaben aufschieben und uns stattdessen mit angenehmen Dingen ablenken, desto stärker wird die Gewohnheit des Aufschiebens.
Studien haben gezeigt, dass bei Menschen, die zu Prokrastination neigen, die Amygdala, das Gefühlszentrum im Gehirn, vergrößert ist. Dies deutet auf eine erhöhte Sensibilität gegenüber negativen Emotionen hin, die wiederum das Aufschieben von Aufgaben begünstigen kann.
Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass die genetische Veranlagung eine Rolle bei der Prokrastination spielen kann. Insbesondere das Tyrosinhydroxylase-Gen (TH-Gen), das den Dopaminspiegel im Gehirn beeinflusst, scheint mit Prokrastination in Verbindung zu stehen. Interessanterweise wurde dieser Zusammenhang vor allem bei Frauen beobachtet, was möglicherweise auf den Einfluss des weiblichen Hormons Östrogen auf die Dopaminregulation zurückzuführen ist.
Die Auswirkungen von Prokrastination auf die Genesung
Prokrastination kann die Genesung von Süchtigen erheblich beeinträchtigen. Wer wichtige Schritte aufschiebt, riskiert einen Rückfall und verhindert, dass er sein Leben wieder in den Griff bekommt. Prokrastination kann zu folgenden Problemen führen:
- Verzögerung der Therapie: Süchtige, die den Gang zur Therapie aufschieben, verlängern ihr Leiden und riskieren, dass sich ihre Sucht weiter verschlimmert.
- Probleme im Alltag: Prokrastination kann sich auch auf andere Lebensbereiche auswirken, wie beispielsweise die Arbeit, die Familie oder die sozialen Kontakte. Süchtige, die Aufgaben aufschieben, haben oft Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen und ihre Ziele zu erreichen. Darüber hinaus kann Prokrastination die Work-Life-Balance negativ beeinflussen, indem sie zu Stress und einer verminderten Freizeitqualität führt.
- Psychische Belastung: Prokrastination kann zu Stress, Angst und Depressionen führen. Süchtige, die bereits mit psychischen Problemen kämpfen, werden durch Prokrastination zusätzlich belastet.
Tipps zur Überwindung von Prokrastination
Die gute Nachricht ist: Prokrastination kann überwunden werden. Es gibt verschiedene Strategien, die Süchtigen helfen können, ihr Aufschiebeverhalten in den Griff zu bekommen und ihre Ziele zu erreichen. Hier einige Tipps:
- Klare Ziele setzen: Definieren Sie klare und realistische Ziele. Was möchten Sie erreichen? Welche Schritte sind dafür notwendig? Im Kontext der Sucht kann es hilfreich sein, sich zunächst auf die Abstinenz zu konzentrieren und klare Konsumziele zu formulieren.
- Aufgaben in kleine Schritte unterteilen: Große Aufgaben können überwältigend wirken. Unterteilen Sie diese in kleinere, überschaubare Schritte.
- Prioritäten setzen: Konzentrieren Sie sich auf die wichtigsten Aufgaben und erledigen Sie diese zuerst.
- Ablenkungen vermeiden: Schaffen Sie sich eine Umgebung, in der Sie konzentriert arbeiten können. Schalten Sie Ihr Handy aus, schließen Sie unnötige Programme und vermeiden Sie Multitasking.
- Belohnungssystem einführen: Belohnen Sie sich für erreichte Ziele. Dies kann die Motivation steigern und das Prokrastinationsverhalten reduzieren.
- Selbstmitgefühl entwickeln: Seien Sie nachsichtig mit sich selbst, wenn Sie mal einen Rückfall in alte Muster haben. Wichtig ist, dass Sie dranbleiben und nicht aufgeben.
- Unterstützung suchen: Scheuen Sie sich nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt verschiedene Anlaufstellen, die Süchtige bei der Überwindung von Prokrastination unterstützen können, wie beispielsweise Selbsthilfegruppen oder Therapeuten.
Erfolgsgeschichten
Es gibt viele Süchtige, die es geschafft haben, ihre Prokrastination zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen. Ihre Geschichten zeigen, dass es möglich ist, die Sucht zu besiegen und seine Ziele zu erreichen. Oftmals ist es der erste Schritt, der am schwersten fällt. Doch wer den Mut hat, sich seinen Problemen zu stellen und Hilfe anzunehmen, kann es schaffen.
Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte eines Süchtigen, der durch die Teilnahme an den Treffen der „Internet and Technology Addicts Anonymous“ (ITAA) seine Prokrastination in den Griff bekommen hat. Die ITAA bietet verschiedene Werkzeuge und Strategien zur Bewältigung von Sucht und Prokrastination, die ihm geholfen haben, bessere Entscheidungen zu treffen und sein Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Fazit
Prokrastination ist ein weit verbreitetes Problem, das auch Süchtige betrifft. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von Angst vor Veränderung über Schuldgefühle bis hin zu mangelnder Selbstkontrolle. Die Prokrastination kann die Genesung behindern, indem sie wichtige Schritte wie den Beginn einer Therapie oder die Suche nach einem Job verzögert. Zusätzlich verstärkt sie die psychische Belastung, mit der Süchtige ohnehin zu kämpfen haben.
Die gute Nachricht ist, dass Prokrastination überwunden werden kann. Mit den richtigen Strategien und Unterstützung können Süchtige ihr Aufschiebeverhalten in den Griff bekommen und ihre Genesung erfolgreich fortsetzen. Es ist wichtig, sich realistische Ziele zu setzen, Aufgaben in kleine Schritte zu unterteilen und Ablenkungen zu vermeiden. Ein Belohnungssystem und Selbstmitgefühl können ebenfalls hilfreich sein. Und nicht zuletzt ist es wichtig, sich Unterstützung zu suchen, sei es durch Selbsthilfegruppen, Therapie oder den Austausch mit anderen Betroffenen.
Die Geschichten von Süchtigen, die ihre Prokrastination überwunden haben, zeigen, dass es möglich ist, die Sucht zu besiegen und ein erfülltes Leben zu führen. Der erste Schritt mag schwer fallen, aber er ist der Beginn eines neuen Lebensabschnitts.
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