Ein Artikel aus der „Frauen & Sucht“-Serie von NeelixberliN
🎬 Video-Version
🎧 Podcast-Version
Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Trauma, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), sexuellen und emotionalen Missbrauch und deren direkten Zusammenhang mit Sucht.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery habe ich eines gelernt: Wenn du wirklich verstehen willst, warum jemand süchtig ist, frag nicht nach der Droge. Frag nach dem Schmerz, den die Droge betäuben sollte. In meinen ersten Jahren dachte ich, die Drogen seien mein Hauptproblem. Heute weiß ich: Die Drogen waren nur der Versuch, ein viel tieferes Problem zu betäuben – mein Trauma.
Und bei unzähligen Frauen, deren Geschichten ich in Meetings hören durfte, ist das Muster noch klarer, noch verheerender. Hinter der Alkoholsucht, der Tablettenabhängigkeit, dem Kokainkonsum liegt fast immer eine tiefere Wunde. Eine Wunde, die oft Namen hat wie sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung oder häusliche Gewalt.
Die Substanz ist nicht der eigentliche Feind. Sie ist die selbstverschriebene, aber hochgiftige Medizin gegen die Flashbacks, die Panikattacken, die Albträume und das erdrückende Gefühl der Wertlosigkeit. Sie ist der verzweifelte Versuch, das innere Schreien zum Schweigen zu bringen. Wenn wir nur die Sucht behandeln, aber diese darunterliegende Wunde ignorieren, kratzen wir nur an der Oberfläche, während die Wurzel weiterwuchert.
Für eine Frau mit unverarbeitetem Trauma ist die Sucht keine moralische Schwäche, sondern oft eine verzweifelte, intuitive Überlebensstrategie. Die Substanz wird zur Medizin gegen die Flashbacks, die Angst und die innere Leere – eine Medizin, die kurzfristig wirkt und langfristig tötet.
🎯 Die harten Fakten: Die untrennbare Verbindung von Trauma und Sucht bei Frauen
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Trauma-Epidemie hinter der Sucht
Der Zusammenhang zwischen Trauma und Sucht bei Frauen ist wissenschaftlich überwältigend:
- Bis zu 80% der Frauen in Suchtbehandlung haben eine Vorgeschichte von physischem oder sexuellem Missbrauch. Bei Männern ist die Rate ebenfalls hoch, aber bei Frauen ist der Zusammenhang noch signifikanter (Quelle: SAMHSA – Substance Abuse and Mental Health Services Administration).
- Hohe PTBS-Komorbidität: Bis zu 59% der Frauen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln auch eine Substanzabhängigkeit. Frauen mit PTBS haben ein höheres Risiko für eine Suchterkrankung als Männer mit PTBS (Quelle: National Center for PTSD).
- Selbstmedikation als Hauptmotiv: Die „Selbstmedikations-Hypothese“ des Forschers Edward Khantzian ist weithin anerkannt. Sie besagt, dass Betroffene Substanzen oft gezielt (wenn auch unbewusst) auswählen, um unerträgliche Gefühle, die aus einem Trauma resultieren, zu betäuben.
- Trauma-informierte Behandlung wirkt: Ansätze, die Sucht und Trauma integriert behandeln („Trauma-Informed Care“), zeigen nachweislich bessere Ergebnisse, höhere Haltequoten in der Therapie und geringere Rückfallraten.
🔬 Wissenschaft: Was in deinem Gehirn passiert, wenn Trauma auf Sucht trifft
Ein Trauma hinterlässt physische Spuren in deinem Gehirn. Die Sucht ist oft eine direkte Reaktion auf diese neurologischen Veränderungen:
- Das alarmierte Gehirn: Ein Trauma führt zu einer Überaktivität der Amygdala (dem Angstzentrum) und einer Unteraktivität des präfrontalen Kortex (dem rationalen Denken). Das Ergebnis: Du bist in ständiger Alarmbereitschaft (Hypervigilanz), überreagierst auf Trigger und kannst dich nicht beruhigen.
- Die Logik der Selbstmedikation: Dein Gehirn sucht verzweifelt nach einer Lösung für diesen Dauer-Alarm.
- Alkohol & Opiate dämpfen die überaktive Amygdala und betäuben den emotionalen Schmerz und die Flashbacks.
- Stimulanzien (Koks, Speed) bekämpfen die traumatische Leere, Taubheit und Depression.
- Benzodiazepine unterdrücken die ständige Angst und Panik.
- Der gekaperte Belohnungspfad: Die kurzfristige „Linderung“ durch die Substanz wird vom Belohnungssystem als überlebenswichtig eingestuft. Das Gehirn lernt: „Traumatischer Schmerz -> Droge -> Überleben“. Diese Verknüpfung ist extrem schwer zu durchbrechen.
🎭 Der Teufelskreis: Wie Sucht die Traumaheilung blockiert

⚠️ Der Teufelskreis: Warum du mit der Sucht das Trauma nur fütterst
Die Sucht, die als Lösung begann, wird zum größten Hindernis für die Heilung des Traumas:
- Verhinderung der Verarbeitung: Substanzen betäuben die Gefühle, die du fühlen müsstest, um das Trauma zu verarbeiten. Das Trauma bleibt „eingefroren“ und kann nicht heilen. Du steckst fest.
- Risiko der Re-Traumatisierung: Drogenkonsum führt oft in unsichere Situationen und zu riskantem Verhalten. Die Wahrscheinlichkeit, erneut Opfer von Gewalt oder Missbrauch zu werden, steigt dramatisch.
- Zerstörung von Sicherheit: Traumaheilung braucht ein Gefühl von Sicherheit und vertrauensvolle Beziehungen. Die Sucht zerstört genau das: Sie führt zu Lügen, Isolation und zerbrochenen Beziehungen.
- Verstärkung der Symptome: Langfristig verschlimmern Drogen die Symptome von PTBS. Der Entzug kann Panikattacken verstärken, Alkohol kann Depressionen vertiefen und Stimulanzien können Paranoia auslösen.
🛡️ Safer Use: Wege zur integrierten Heilung von Sucht und Trauma

Du kannst nicht aus einem brennenden Haus rennen und gleichzeitig das Feuer ignorieren. Echte, nachhaltige Recovery von dieser Doppelbelastung ist nur möglich, wenn du beides gleichzeitig und integriert behandelst.
🛡️ Safer Use: Dein Weg zur doppelten Heilung
Der Schlüssel ist, einen Weg zu finden, der BEIDE Probleme gleichzeitig angeht.
- Suche explizit nach „Trauma-informierter Hilfe“: Das ist das wichtigste Stichwort. Frage in Suchtberatungsstellen oder bei Therapeuten direkt: „Haben Sie Erfahrung mit der integrierten Behandlung von Sucht und Trauma?“.
- Informiere dich über Therapieformen: Es gibt spezielle, hochwirksame Therapien für Trauma. Dazu gehören EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), Somatic Experiencing (Körpertherapie) und trauma-fokussierte Kognitive Verhaltenstherapie.
- Schaffe Sicherheit im Hier und Jetzt: Lerne Grounding-Techniken (siehe unseren Skills-Artikel), um dich bei Flashbacks oder Dissoziationen im gegenwärtigen Moment zu verankern. Ein kalter Waschlappen im Nacken, der Geruch von Teebaumöl, das Zählen von blauen Gegenständen im Raum.
- Lerne, Grenzen zu setzen: Trauma zerstört oft das Gefühl für gesunde Grenzen. „Nein“ sagen zu lernen ist ein revolutionärer Akt der Selbstermächtigung und ein zentraler Teil der Trauma-Heilung.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Muss ich über mein Trauma im Detail reden, um zu heilen?
✅ Nicht unbedingt. Das ist ein wichtiger Mythos. Moderne, körperorientierte Trauma-Therapien wie Somatic Experiencing oder auch EMDR ermöglichen oft eine Verarbeitung des Traumas, ohne die Geschichte immer wieder im Detail erzählen zu müssen, was eine erneute Retraumatisierung verhindern kann. Finde den Ansatz, der sich für dich sicher anfühlt.
❤️ Meine Suchttherapie ignoriert mein Trauma. Was soll ich tun?
✅ Sprich es klar an. Wenn deine Bedenken nicht ernst genommen werden oder der Fokus stur nur auf der reinen Abstinenz liegt, ist es möglicherweise nicht der richtige Ort für dich. Suche dir eine zweite Meinung oder eine Beratungsstelle, die explizit trauma-informiert arbeitet. Eine reine Suchtbehandlung ohne Traumabearbeitung ist bei dieser Konstellation oft zum Scheitern verurteilt.
🧠 Was ist der Unterschied zwischen einem Trauma und einer „schlimmen Erfahrung“?
✅ Eine schlimme Erfahrung ist schmerzhaft, aber dein Nervensystem kann sie verarbeiten und als Vergangenheit abspeichern. Ein Trauma ist ein Ereignis (oder eine Serie von Ereignissen), das dein Nervensystem so überwältigt hat, dass es nicht verarbeitet werden konnte. Es bleibt im Körper „stecken“ und fühlt sich an, als würde es im Hier und Jetzt immer wieder passieren (durch Flashbacks, Albträume, körperliche Reaktionen).
💪 Kann ich zuerst meine Sucht behandeln und mich „später“ um das Trauma kümmern?
✅ Das ist der klassische Ansatz, der aber oft scheitert. Wenn du das Trauma nicht behandelst, bleibt der Hauptgrund für deinen Konsum bestehen, was das Rückfallrisiko extrem erhöht. Moderne Ansätze behandeln beides integriert und gleichzeitig. Zuerst wird Stabilität geschaffen, um mit den Trauma-Erinnerungen umgehen zu können, dann wird beides parallel bearbeitet.
😔 Ich wurde traumatisiert, bin aber (noch) nicht süchtig. Bin ich gefährdet?
✅ Ja. Unverarbeitetes Trauma ist einer der größten einzelnen Risikofaktoren für die Entwicklung einer Suchterkrankung. Wenn du merkst, dass du anfängst, Alkohol oder andere Mittel zu nutzen, um mit den Folgen deines Traumas (z.B. Schlafstörungen, Angst) umzugehen, ist das ein massives Alarmsignal. Sich frühzeitig professionelle Hilfe für das Trauma zu suchen, ist die beste Suchtprävention, die es gibt.
🎬 NeelixberliN Fazit

Ich habe unzählige Frauen gesehen, die jahrelang in der Recovery auf der Stelle traten. Sie arbeiteten die Schritte, sie blieben trocken, aber sie waren nicht frei. Sie waren gefangen in ihrer Angst, ihren Depressionen, ihren zerstörerischen Beziehungsmustern.
Der Moment, in dem sich alles änderte, war fast immer derselbe: Der Moment, in dem sie aufhörten, nur über ihre Sucht zu reden, und anfingen, über ihr Trauma zu sprechen. Der Moment, in dem sie verstanden, dass sie nicht aus Charakterschwäche getrunken hatten, sondern aus unerträglichem Schmerz.
Diese Erkenntnis nimmt nicht den Schmerz, aber sie nimmt die Scham. Und wenn die Scham weg ist, ist der Weg frei für echte Heilung. Deine Sucht ist nicht deine Identität. Sie ist nicht dein Versagen. Sie ist vielleicht die Rüstung, die du dir bauen musstest, um eine unerträgliche Wunde zu überleben. Heilung beginnt in dem Moment, in dem du den Mut hast, die Rüstung abzulegen und die Wunde darunter anzusehen. Du musst das nicht allein tun.
📚 Quellen & Referenzen
- SAMHSA (Substance Abuse and Mental Health Services Administration): TIP (Treatment Improvement Protocol) Series, insbesondere TIP 57 „Trauma-Informed Care in Behavioral Health Services“.
- National Center for PTSD (U.S. Department of Veterans Affairs): Umfangreiche Ressourcen und Faktenblätter zur Komorbidität von PTBS und Substanzgebrauchsstörungen bei Frauen.
- Khantzian, E. J. (1985). „The self-medication hypothesis of addictive disorders: focus on heroin and cocaine dependence.“ The American journal of psychiatry. (Grundlagenwerk zur Selbstmedikations-Hypothese).
- EMDRIA Deutschland e.V.: Fachverband für die EMDR-Therapiemethode in Deutschland, Informationen und Therapeuten-Suche.
⭐ Empfehlung des Tages
Eine tolle Frau, die aus Erfahrung spricht & Dir zeigt, wie Dein Leben aussehen kann! Klar, frei & selbstbestimmt – mit:
Binia ✨
💫 Zertifizierte Mentaltrainerin & SOBERMOM
🍷 Alkoholfrei leben
🧡 Gesundheit stärken
🌱 Endlich wieder AUFBLÜHEN