Ein Artikel aus der „Wichtiges zu Sucht“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel setzt sich kritisch mit populären, aber potenziell schädlichen Ansichten über Sucht auseinander und verteidigt das wissenschaftliche Krankheitsmodell.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery höre ich einen Satz in letzter Zeit immer öfter, meist von selbsternannten Coaches auf Social Media: „Sucht ist keine Krankheit, die Therapeuten lügen dich an! Das Wort ‚Sucht‘ kommt von ’suchen‘. Du musst nur finden, was dir fehlt!“ Es klingt so weise. So ermächtigend. So einfach. Und genau deshalb ist es eine der gefährlichsten Halbwahrheiten, die es in der Recovery-Welt gibt.
Diese Idee ist wie eine Droge für Verzweifelte. Sie verspricht eine schnelle, spirituelle Lösung für ein tiefes, komplexes Problem. Sie appelliert an unser Ego, das nicht „krank“ sein will. Sie gibt uns das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Aber sie basiert auf einer sprachlichen Lüge und ignoriert die brutale, neurobiologische Realität, die in unseren Köpfen stattfindet.
Ich werde in diesem Artikel nicht nur an der Oberfläche kratzen. Wir werden diesen Mythos in seine Einzelteile zerlegen. Wir schauen uns an, was an der „Suchen“-Idee psychologisch wertvoll ist, warum sie sprachwissenschaftlich aber Bullshit ist und warum die Anerkennung von Sucht als Krankheit kein Akt der Schwäche, sondern der erste, überlebenswichtige Schritt in eine stabile Nüchternheit ist.
Ja, deine Sucht hat mit einer Suche begonnen. Aber sie ist zu einer handfesten Krankheit geworden, die dein Gehirn verändert hat. Wer diesen biologischen Fakt leugnet, verkauft dir eine spirituelle Abkürzung, die direkt in den nächsten Rückfall führt.
🎯 Die harten Fakten: Warum Sucht wissenschaftlich eine Krankheit ist
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Sucht ist eine anerkannte Krankheit
Die Klassifizierung von Sucht als Krankheit ist keine Meinung, sondern globaler wissenschaftlicher Konsens:
- Offiziell klassifiziert: Suchterkrankungen sind sowohl in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD-10/ICD-11) als auch im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) als eigenständige, chronische Krankheiten des Gehirns definiert.
- Genetische Komponente: Studien, u.a. vom National Institute on Drug Abuse (NIDA), belegen, dass genetische Faktoren etwa 40-60% des Risikos für die Entwicklung einer Suchterkrankung ausmachen.
- Messbare Hirnveränderungen: Bildgebende Verfahren zeigen, dass chronischer Drogenkonsum die Struktur und Funktion von Hirnarealen, die für Belohnung, Stressverarbeitung und Selbstkontrolle zuständig sind, nachweislich verändert.
- Das Biopsychosoziale Modell: Die moderne Suchtforschung und -therapie basiert auf dem biopsychosozialen Modell, das Sucht als komplexes Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren versteht. Ein reiner Fokus auf nur einen Aspekt gilt als veraltet und ineffektiv.
🎭 Analyse Teil 1: Die Wahrheit in der Lüge – „Sucht als Suche“

Um fair zu sein: Die Idee, dass Sucht mit einer „Suche“ zu tun hat, ist nicht komplett falsch. Sie ist nur unvollständig. Der psychologische Kern dahinter ist extrem wertvoll und der Grund, warum sich dieser Mythos so gut anfühlt.
❤️ Der wahre Kern: Warum die „Suchen“-Metapher so kraftvoll ist
Auch wenn die Wortherkunft falsch ist, hat der „Suchen“-Ansatz eine wichtige psychologische Funktion:
- Er gibt der Sucht einen Sinn: Er verwandelt sinnloses, selbstzerstörerisches Verhalten in eine nachvollziehbare (wenn auch dysfunktionale) Überlebensstrategie. Dies reduziert die lähmende Scham.
- Er lenkt den Fokus auf die Ursache: Er zwingt uns, die entscheidende Frage zu stellen: „Welchen Schmerz versuche ich zu betäuben?“ Das ist die Grundlage der Selbstmedikations-Hypothese und der Beginn jeder tiefen heilerischen Arbeit.
- Er fördert die Selbstwirksamkeit: Wenn ich nur etwas „suche“, dann kann ich auch etwas „finden“. Dieser Gedanke gibt dem Betroffenen das Gefühl von Handlungsfähigkeit zurück, anstatt sich als passives Opfer einer Krankheit zu fühlen.
Fazit: Als psychologisches Werkzeug zur Selbstreflexion ist die „Suchen“-Metapher brillant. Als alleinige Erklärung für Sucht ist sie unvollständig und naiv.
⚡ Analyse Teil 2: Die Lüge in der Wahrheit – Warum die Leugnung der Krankheit tödlich ist

Nachdem wir den wahren Kern anerkannt haben, kommen wir zum gefährlichen Teil der Behauptung. Zu sagen, Sucht sei keine Krankheit, ist aus drei Gründen brandgefährlich.
⚠️ Die Gefahr: Warum die Leugnung der Krankheit tödlich ist
Zu behaupten, Sucht sei KEINE Krankheit, hat drei verheerende Konsequenzen:
- Es befeuert die Stigmatisierung: Wenn Sucht keine Krankheit ist, was ist sie dann? Eine Charakterschwäche. Eine Willensschwäche. Eine moralische Verfehlung. Das wirft uns 50 Jahre in der Aufklärung zurück und verstärkt die Scham der Betroffenen.
- Es leugnet die biologische Realität: Es ignoriert die massiven, messbaren Veränderungen im Gehirn, die den zwanghaften Charakter der Sucht ausmachen. Einem schwer Süchtigen zu sagen, er müsse nur seine Einstellung ändern, ist so, als würde man einem Diabetiker sagen, er solle sich seinen Insulinspiegel einfach schön denken.
- Es untergräbt professionelle Hilfe: Nur weil Sucht eine anerkannte Krankheit ist, zahlen Krankenkassen für Therapien und Entgiftungen. Coaches, die dieses Modell als „Lüge“ bezeichnen, sägen an dem Ast, auf dem das gesamte Hilfesystem sitzt.
🛡️ Die Synthese: Dein Kompass für eine ganzheitliche Heilung

🛡️ Die Synthese: Sucht ganzheitlich verstehen (Das Biopsychosoziale Modell)
Die moderne Suchtforschung nutzt ein Modell, das alle Aspekte vereint. Wahre Heilung adressiert alle drei Ebenen:
- BIO (Die Krankheit): Akzeptiere die biologische Realität. Dein Gehirn ist krank und braucht Heilung und oft auch medizinische Unterstützung. Hier geht es um Abstinenz, Ernährung, Schlaf und das Wissen um die neurobiologischen Prozesse.
- PSYCHO (Die Suche): Erforsche deine Wunden. Gehe in Therapie, um herauszufinden, was du mit den Drogen zu betäuben versucht hast (Trauma, Depression, Angst). Hier geht es um die Heilung deiner Seele.
- SOZIAL (Das Umfeld): Verändere dein Umfeld. Baue stabile, nüchterne Beziehungen auf. Lerne, in einer Gesellschaft, die Konsum normalisiert, clean zu navigieren. Hier geht es um Selbsthilfegruppen und gesunde Freundschaften.
Frage jeden Coach, der dir eine simple Lösung verkauft, welche dieser drei Ebenen er ignoriert. Meistens ist es die biologische – und genau das macht seinen Ansatz so gefährlich.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Ist die „Sucht kommt von suchen“-Idee also komplett falsch?
✅ Als Wortherkunft ist sie falsch. Als psychologische Metapher ist sie extrem wertvoll. Sie hilft, die Ursachen hinter der Sucht zu verstehen und die Scham zu reduzieren. Sie ist ein gutes Werkzeug für die Selbstreflexion, aber eine unvollständige und irreführende Erklärung für das Gesamtphänomen Sucht.
❤️ Wenn Sucht eine Krankheit ist, bin ich dann nicht machtlos und habe keine Verantwortung?
✅ Das ist der wichtigste Punkt: Du bist nicht verantwortlich FÜR deine Krankheit, aber du bist zu 100% verantwortlich FÜR deine Genesung (Recovery). Genauso wie ein Diabetiker nicht „schuld“ an seiner Krankheit ist, aber voll verantwortlich dafür ist, sein Insulin zu nehmen und auf seine Ernährung zu achten. Das Krankheitsmodell ist keine Ausrede, es ist die Grundlage für eine gezielte Behandlung.
🧠 Warum sind so viele Coaches gegen das Krankheitsmodell?
✅ Oft, weil es ihrem Geschäftsmodell widerspricht. Das Krankheitsmodell impliziert, dass komplexe, oft medizinische Hilfe nötig ist. Ein Coaching-Ansatz, der nur auf „Mindset“ und „Einstellung“ setzt, muss die biologische Komponente leugnen, um seine eigene Methode als die alleinige Lösung verkaufen zu können. Es schafft eine simple „Gut gegen Böse“-Erzählung (die böse Therapie vs. das erleuchtete Coaching).
💪 Was ist das Biopsychosoziale Modell in einfachen Worten?
✅ Es bedeutet, dass Sucht wie ein Hocker mit drei Beinen ist: Ein biologisches Bein (deine Gene, dein Gehirn), ein psychologisches Bein (deine Gefühle, Traumata, deine „Suche“) und ein soziales Bein (dein Umfeld, deine Freunde, gesellschaftlicher Druck). Wenn du nur ein Bein behandelst, kippt der Hocker immer wieder um. Wahre Stabilität gibt es nur, wenn du an allen drei Beinen arbeitest.
😔 Hilft mir die „Suchen“-Perspektive trotzdem in meiner Recovery?
✅ Ja, enorm! Nutze sie als das, was sie ist: ein kraftvolles Werkzeug zur Selbsterforschung. Frage dich: „Was habe ich gesucht?“. Finde die Antwort. Heile diese Wunde. Aber vergiss dabei niemals, auch die Krankheit Sucht mit ihren biologischen Realitäten ernst zu nehmen und dir dafür professionelle Hilfe und die Unterstützung von anderen Betroffenen zu holen.
🎬 NeelixberliN Fazit
Die Coaching-Szene ist voll von gut gemeinten, aber oft gefährlich simplen Heilsversprechen. Die Idee, dass Sucht nur eine „Suche“ ist, ist eines davon. Es fühlt sich gut an, weil es uns aus der Opferrolle des „Kranken“ befreit. Aber es bürdet uns gleichzeitig eine Last auf, die wir allein nicht tragen können, indem es die biologische Realität ignoriert.
Nach 28 Jahren kann ich dir sagen: Meine Sucht war beides. Sie war die verzweifelte Suche eines traumatisierten Jungen nach einem Ausweg. Und sie war eine ausgewachsene, chronische Krankheit, die mein Gehirn gekapert und mich fast umgebracht hat. Ohne die psychologische Arbeit an meiner „Suche“ wäre ich in meinen alten Mustern gefangen geblieben. Aber ohne die Anerkennung der „Krankheit“ und die Werkzeuge aus der Suchthilfe – die radikale Akzeptanz der Machtlosigkeit und die Struktur der Selbsthilfegruppen – wäre ich heute tot.
Lass dir von niemandem einreden, du müsstest dich für eine Seite entscheiden. Nimm dir das Beste aus beiden Welten. Sei neugierig auf deine Suche, erforsche deine Wunden. Aber behandle deine Krankheit mit dem Respekt und der professionellen Hilfe, die sie erfordert. Das ist kein Widerspruch. Das ist ganzheitliche, unzerbrechliche Recovery.
📚 Quellen & Referenzen
- Weltgesundheitsorganisation (WHO): Internationale Klassifikation der Krankheiten, 11. Revision (ICD-11). (Definiert Substanzgebrauchsstörungen als Krankheit).
- American Psychiatric Association (APA): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, 5. Revision (DSM-5). (Der Goldstandard der psychiatrischen Diagnostik).
- National Institute on Drug Abuse (NIDA): „Drugs, Brains, and Behavior: The Science of Addiction“. (Umfassende Ressource zur Neurobiologie der Sucht).
- Khantzian, E. J. (1985). The self-medication hypothesis of addictive disorders. The American journal of psychiatry. (Das Grundlagenwerk zur Theorie).