Ein Artikel aus der „MIND-HACKS FÜR ANGEHÖRIGE“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel ist eine direkte und konfrontative Auseinandersetzung mit co-abhängigen Verhaltensmustern. Er richtet sich an Angehörige, die bereit sind, ihre eigene Rolle im Suchtsystem zu hinterfragen.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery weiß ich: Ich habe meine Angehörigen zu Experten gemacht. Zu Experten für Lügen-Erkennung, Krisen-Management und die Vorhersage meines nächsten Absturzes. Ihr ganzes Leben, ihre ganze Energie, ihre ganzen Gedanken drehten sich nur noch um mein Problem. Sie waren die Co-Piloten in meinem permanenten Flugzeugabsturz. Sie haben verzweifelt versucht, das Steuer herumzureißen, während ich dabei war, die Maschine zu Schrott zu fliegen.
Was ich damals nicht verstand, und was viele Angehörige selbst nicht verstehen: Irgendwann wird die Rolle des Co-Piloten in der Krise selbst zur Sucht.
Du bist clean von Drogen, aber du bist high vom nächsten Anruf voller Drama. Du nimmst kein Koks mehr, aber du bekommst einen Kick, wenn du ihn „retten“ oder „überführen“ konntest. Dein Leben fühlt sich leer und sinnlos an, wenn es gerade mal kein Problem zu lösen gibt. Wenn das auf dich zutrifft, dann willkommen im Club. Du kämpfst nicht nur gegen seine Sucht. Du kämpfst auch gegen deine eigene.
Deine Co-Abhängigkeit ist nicht nur „zu viel Kümmern“. Es ist eine handfeste Verhaltenssucht. Dein Gehirn ist süchtig nach dem Adrenalin der Krise, der kurzfristigen Erleichterung der „Rettung“ und der Identität, die es dir gibt. Du bist süchtig nach den Problemen deines Partners.
🎯 Die harten Fakten: Die Wissenschaft hinter der „Helfer-Sucht“
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Wissenschaft hinter der „Helfer-Sucht“
Die obsessive Sorge um einen Süchtigen ist nicht nur „Liebe“, sondern ein anerkanntes psychologisches Muster mit Suchtcharakter:
- Co-Abhängigkeit als Verhaltenssucht: Die Neurobiologie zeigt, dass die Verhaltensmuster der Co-Abhängigkeit (Krisenmanagement, Rettung, Hoffnung) im Gehirn ähnliche Dopamin-Kreisläufe aktivieren wie Glücksspiel- oder Drogensucht.
- Intermittierende Verstärkung: Das unvorhersehbare Wechseln des Süchtigen zwischen „guten“ und „schlechten“ Phasen wirkt wie ein Spielautomat (Prinzip nach B.F. Skinner). Diese „intermittierende Verstärkung“ erzeugt die stärkste Form von psychologischer Abhängigkeit.
- Das Drama-Dreieck: Das 1968 von Stephen Karpman entwickelte Modell des Drama-Dreiecks (Retter, Verfolger, Opfer) ist ein Standardwerkzeug in der Transaktionsanalyse, um die dysfunktionalen Rollen in Sucht-Familien zu erklären.
- Überwiegend weiblich betroffen: Schätzungen gehen davon aus, dass 80-90% der Menschen in Behandlung oder Selbsthilfegruppen für Co-Abhängigkeit Frauen sind, was auf eine starke soziale Konditionierung zur „Kümmerin“ hindeutet.
🔬 Wissenschaft: Warum dein Gehirn das Drama liebt
Dein Gehirn entwickelt eine handfeste Sucht nach dem Problem des anderen. Das hat drei Hauptgründe:
- Der Adrenalin-Kick des Retters: Jede Krise des Süchtigen (Anruf aus der Notaufnahme, Jobverlust) ist für dich ein Alarm. Dein Körper schüttet Adrenalin und Cortisol aus. Du springst in den Krisenmodus und bekommst kurzfristig ein Gefühl von Wichtigkeit und Kontrolle.
- Der Dopamin-Jackpot der „guten Phase“: Wenn der Süchtige nach einer Krise für eine Weile clean, liebevoll und dankbar ist, erlebt dein Gehirn einen massiven Dopamin-Kick. Es ist der unvorhersehbare „Gewinn“ am Spielautomaten, der dich süchtig nach der nächsten „guten Phase“ macht.
- Die Flucht vor der eigenen Leere: Sich 24/7 um die Probleme eines anderen zu kümmern, ist die perfekte, sozial anerkannte Strategie, um sich nicht mit den eigenen Problemen, Ängsten und unerfüllten Träumen beschäftigen zu müssen. Das Drama des anderen füllt deine innere Leere.
Aus meinem Leben: Wie ich meine Partnerin erst zur Komplizin und dann zum Opfer machte
Ich erinnere mich noch gut an den Anfang meiner Heroin-Zeit. Ich war gerade in einer neuen Beziehung. Ihre Wohnung war ausgerechnet am Drogenhotspot in Münster. Eines Morgens, als sie zur Arbeit ging, brauchte ich dringend Kohle für die nächste Schore (Heroin). Und da lag sie, ihre Bankkarte. Ich schnappte sie mir, hob 20 Euro von ihrem Konto ab und konsumierte in ihrer Wohnung mit Fremden das Zeug.
Bevor sie zurück war, war natürlich niemand mehr da. Ich spielte kurz mit dem Gedanken, nichts zu sagen, aber das konnte ich nicht und beichtete ihr den Diebstahl. Sie war bis über beide Ohren verliebt und ihre Reaktion war nicht Wut, sondern Sorge. Sie meinte nur, das sei ihr lieber, als wenn ich dafür kriminell werde.
Von da an gab sie mir, bis ich kurze Zeit später ins Methadon-Programm ging, täglich Geld für den Konsum. Sie dachte, sie würde mich beschützen, aber in Wahrheit wurde sie zur Komplizin meiner Sucht. Durch das Methadon veränderte ich mich sehr, zeigte kaum noch Emotionen, war völlig unzuverlässig und einfach nicht mehr der, in den sie sich verliebt hatte. Irgendwann beendete sie von heute auf morgen die Beziehung, weil sie mich angeblich plötzlich nicht mehr liebte.
Heute weiß ich: Sie musste sich schützen und konnte meinen Untergang nicht mehr ertragen. Ihre Entscheidung, zu gehen, war kein Mangel an Liebe. Es war der ultimative Akt der Selbstliebe und der einzige Ausweg aus dem Cockpit meines Absturzes.
🎭 Das Drama-Dreieck: Bist du Retter, Verfolger oder Opfer?

Die meisten co-abhängigen Beziehungen laufen nach einem psychologischen Muster ab, das sich „Drama-Dreieck“ nennt. Es besteht aus drei Rollen, zwischen denen du und der Süchtige ständig hin- und herwechselt.
⚠️ Checkliste: Deine drei Gesichter im Drama-Dreieck
In einer co-abhängigen Dynamik spielst du unbewusst immer wieder drei Rollen. Erkennst du dich wieder?
- Die Retterin („Ich helfe ihm“): Du übernimmst Verantwortung, entschuldigst sein Verhalten, bezahlst seine Schulden. Du fühlst dich stark und gebraucht.
- Die Verfolgerin („Ich hasse dich dafür“): Wenn deine „Hilfe“ nicht fruchtet, kippt die Rolle. Du machst ihm Vorwürfe, kontrollierst ihn, schreist ihn an. Du fühlst dich wütend und betrogen.
- Das Opfer („Ich kann nicht mehr“): Nach dem Wutanfall kommt die Erschöpfung. Du ziehst dich zurück, weinst, fühlst dich hilflos und vom Leben bestraft. Du bist bereit, beim nächsten „Reue“-Anzeichen wieder in die Retter-Rolle zu springen.
Solange du dieses Spiel mitspielst, kann es kein Ende geben. Der einzige Gewinn ist der Ausstieg aus dem Spiel.
🛡️ Safer Use: Der Ausstieg aus dem Cockpit – Deine ersten Mind-Hacks

Du kannst das Flugzeug nicht steuern. Aber du kannst aus dem verdammten Cockpit aussteigen und deinen eigenen Fallschirm ziehen. Hier sind die ersten praktischen Schritte.
🛡️ Safer Use: Deine ersten Mind-Hacks, um auszusteigen
Du kannst ihn nicht ändern. Aber du kannst das Spiel ändern, indem du deine Rolle nicht mehr spielst.
- Hack 1: Benenne das Spiel. Wenn du merkst, dass du wieder in eine der drei Rollen rutschst, sage dir innerlich: „Stopp. Das ist das Drama-Dreieck. Ich steige jetzt aus.“ Allein das Bewusstsein dafür unterbricht den Autopiloten.
- Hack 2: Die 51%-Regel. Eine einfache Faustregel: Ab heute müssen mindestens 51% deiner Gedanken und deiner Sorgen auf DICH und dein eigenes Wohlbefinden gerichtet sein. Nicht auf ihn. Das fühlt sich am Anfang brutal egoistisch an. Es ist überlebensnotwendig.
- Hack 3: Finde DEIN Problem. Jedes Mal, wenn du dich dabei erwischst, wie du über SEIN Problem grübelst, frage dich: „Was ist eigentlich gerade MEIN Problem, das ich ignoriere?“. Ist es deine Einsamkeit? Dein langweiliger Job? Richte die Lösungs-Energie auf dich selbst.
- Hack 4: Hol dir ein eigenes „Meeting“. Geh zu Al-Anon, CoDA oder einer professionellen Angehörigen-Beratung. Du brauchst einen Ort, an dem es nur um DICH geht. Das ist der wichtigste Schritt, um aus der Co-Pilot-Sucht auszusteigen.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Aber wenn ich mich nicht mehr um ihn kümmere, wer tut es dann?
✅ Das ist die Kernfrage und die größte Angst. Die Antwort ist: Er selbst. Er ist ein erwachsener Mensch. Solange du als sein Sicherheitsnetz fungierst, hat er keinen Grund, zu lernen, für sich selbst zu sorgen. Dein Rückzug ist seine einzige Chance, Verantwortung zu übernehmen.
❤️ Ist es nicht normal und liebevoll, sich Sorgen zu machen?
✅ Ja. Gesunde Sorge ist normal. Co-abhängige Sorge ist obsessiv. Wenn deine Sorge dein gesamtes Denken beherrscht und dich davon abhält, dein eigenes Leben zu leben, ist sie zu einem Teil der Krankheit geworden.
🧠 Ich habe das Gefühl, ich verliere meine Identität, wenn ich nicht mehr die „Retterin“ bin. Was nun?
✅ Das Gefühl ist real und zeigt, wie tief du im Muster steckst. Deine Aufgabe in der Recovery ist es, deine eigene, unabhängige Identität wiederzufinden. Wer bist du ohne seine Probleme? Diese Entdeckungsreise ist am Anfang beängstigend, aber am Ende unendlich befreiend.
💪 Mein Partner ist derjenige mit dem Problem, warum muss ICH mich ändern?
✅ Weil du die einzige Person in der Gleichung bist, die du kontrollieren kannst. Du hast bereits jahrelang erfolglos versucht, ihn zu ändern. Der einzige unbespielte Zug auf dem Schachbrett ist die Veränderung deines eigenen Verhaltens.
😔 Wie erkenne ich den Unterschied zwischen gesundem Helfen und dem „Kick“ aus dem Krisen-Management?
✅ Frage dich nach der Handlung: „Mache ich das, um ihm zu helfen, selbstverantwortlich zu werden (z.B. ihn zur Therapie fahren)? Oder mache ich das, um eine Konsequenz von ihm fernzuhalten (z.B. für ihn beim Chef lügen)?“. Und frage dich ehrlich, wie du dich fühlst: Fühlst du dich ruhig und stark oder heimlich aufgeregt und voller Adrenalin?
📚 Lesetipp zur Vertiefung
📖 Lesetipp zur Vertiefung
Die Sucht, gebraucht zu werden von Melody Beattie
Dies ist die absolute Bibel zum Thema Co-Abhängigkeit. Melody Beattie hat mit diesem Buch in den 80er Jahren Millionen von Menschen die Augen geöffnet. Es ist ein tiefgreifender, mitfühlender und zugleich schonungsloser Leitfaden, um die eigenen co-abhängigen Muster zu erkennen, ihre Wurzeln in der Kindheit zu verstehen und den Weg in die Selbstliebe und Unabhängigkeit zu finden.
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🎬 NeelixberliN Fazit

Ich habe meine Angehörigen gehasst, als sie anfingen, diesen Weg zu gehen. Als sie aufhörten, auf meine Anrufe zu springen. Als sie „Nein“ zu meinem Geld-Betteln sagten. Es fühlte sich an wie Verrat.
Heute weiß ich: Es war der größte Akt der Liebe.
Solange sie die Co-Piloten in meinem Absturz waren, musste ich keine Verantwortung übernehmen. Erst als sie ihren Posten verließen und ich allein im Cockpit saß, das auf den Boden zuraste, wurde mir klar, dass nur ICH den Hebel umlegen kann.
Deine Aufgabe ist nicht, im Cockpit seines abstürzenden Flugzeugs zu sitzen. Dein Platz ist am Boden, im Tower, wo du ruhig und stabil bist. Du kannst ihm über Funk den Weg zur Landebahn weisen, aber landen muss er verdammt noch mal allein. Und wenn er es nicht tut, ist es nicht deine Aufgabe, mit ihm abzustürzen.
📖 Quellen & Referenzen
- Karpman, Stephen (1968). „Fairy tales and script drama analysis.“ Transactional Analysis Bulletin. (Der Ursprungsartikel zum Drama-Dreieck).
- Skinner, B. F. (1953). Science and Human Behavior. (Grundlagenwerk zum Prinzip der intermittierenden Verstärkung).
- Beattie, Melody (1986). Codependent No More. (Deutscher Titel: „Die Sucht, gebraucht zu werden“).
- Al-Anon Family Groups & Co-Dependents Anonymous (CoDA): Offizielle Literatur und Webseiten der 12-Schritte-Programme für Angehörige.
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