Umfassendes Drogenlexikon von NeelixberliN – Wissenschaftlich fundiert, ehrlich und aktuell
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Hey Du, heute reden wir über eine Gruppe von Medikamenten, die fast jeder kennt oder sogar zu Hause hat: Antihistaminika. Die Pille gegen Heuschnupfen, die Tropfen gegen Juckreiz oder die rezeptfreie Schlaftablette aus der Apotheke. Harmlos, oder?
Meistens ja. Aber was viele nicht wissen: Bestimmte Antihistaminika der 1. Generation, insbesondere Diphenhydramin (DPH), können missbraucht werden, um einen Rausch zu erzeugen. Und dieser Rausch hat absolut nichts mit einem entspannten High zu tun. Er kann brandgefährlich, traumatisch und potenziell tödlich sein.
💊 Was sind Antihistaminika? Generation 1 vs. 2
Antihistaminika blockieren die Histamin-Rezeptoren (H1) im Körper, um allergische Reaktionen zu stoppen. Man unterscheidet hauptsächlich zwei Generationen:
- Generation 2 & 3 (z.B. Cetirizin, Loratadin): Das sind die modernen Allergiemittel. Sie wirken fast nur im Körper und überwinden die Blut-Hirn-Schranke kaum. Sie machen nicht müde und sind für einen Missbrauch uninteressant.
- Generation 1 (z.B. Diphenhydramin (DPH), Dimenhydrinat, Clemastin): Das sind die älteren Wirkstoffe. Sie überwinden die Blut-Hirn-Schranke mühelos und wirken auch im Gehirn. Deshalb machen sie stark müde und werden oft als rezeptfreie Schlafmittel verkauft (z.B. in Emesan, Vomex A, Betadorm). Und genau hier liegt die Gefahr.
🤔 Warum werden diese Medikamente missbraucht?
Niemand missbraucht Antihistaminika, weil sie besonders „geil“ sind. Die Gründe sind meist andere:
- Leichte Verfügbarkeit: Sie sind rezeptfrei, billig und in jeder Apotheke erhältlich.
- Sedierende Wirkung: In leicht erhöhter Dosis werden sie als „Downer“ missbraucht, um sich zu entspannen, „runterzukommen“ oder als Ersatz für Schlafmittel.
- Verstärkung anderer Drogen: Sie werden oft mit Alkohol oder anderen Drogen (z.B. dem Hustenmittel Dextromethorphan, DXM) gemischt, um deren Wirkung zu verstärken. Eine extrem gefährliche Kombi!
- Der „Trip“ (Delir): In sehr hohen Dosen (>250mg DPH) lösen sie Halluzinationen aus. Dieser „Trip“ ist der Grund für gefährliche Social-Media-Trends wie die „Benadryl Challenge“.
🧠 Neurobiologie: Warum DPH kein Psychedelikum ist (Delirantium)
Der „Trip“ von Diphenhydramin (DPH) wird oft fälschlicherweise als „psychedelisch“ bezeichnet. Das ist falsch und gefährlich. DPH ist ein Delirantium. Der Unterschied ist fundamental:
- Psychedelika (z.B. LSD, Pilze):
- Wirkung: Wirken primär auf das Serotonin-System (5-HT2A-Rezeptor).
- Erleben: Verändern die Wahrnehmung, intensivieren Emotionen, lösen Denkmuster auf. Man weiß aber (meistens) noch, dass man auf einer Droge ist.
- Delirantien (z.B. DPH, Scopolamin):
- Wirkung: Wirken primär als Anticholinergika. Sie blockieren den Botenstoff Acetylcholin, der für Gedächtnis, Lernen und die Verbindung zur Realität essenziell ist.
- Erleben: Sie erzeugen ein **Delirium** – einen Zustand akuter Verwirrung, Desorientierung und einen kompletten Realitätsverlust. Die Halluzinationen (z.B. Spinnen, Schattenmenschen, Gespräche mit imaginären Personen) werden **nicht als Halluzinationen erkannt**, sondern für absolut real gehalten. Dieser Zustand ist extrem beängstigend, traumatisch und potenziell gefährlich.

☠️ Die Risiken & Nebenwirkungen: Von Müdigkeit bis Herzstillstand
Schon bei normaler Dosierung können Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Mundtrockenheit und Schwindel auftreten. Bei missbräuchlicher Überdosierung wird es aber lebensgefährlich.
Akute Risiken (Überdosis):
- Starke Verwirrung, Unruhe, Angst.
- Herz-Kreislauf-System: Extremes Herzrasen (Tachykardie) und hoher Blutdruck. Die größte Gefahr sind lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen (QT-Zeit-Verlängerung), die zum plötzlichen Herzstillstand führen können.
- Zentrales Nervensystem: Krampfanfälle, Muskelzittern, Bewusstlosigkeit.
- Atemdepression: In Kombination mit anderen Downern (Alkohol, Benzos, Opioide) kann die Atmung lebensbedrohlich verlangsamt werden.
- Überhitzung (Hyperthermie): Die Körpertemperatur kann gefährlich ansteigen.
Langfristige Risiken:
- Psychische Abhängigkeit: Man gewöhnt sich an die „Krücke“ zum Schlafen oder Entspannen.
- Kognitive Schäden: Es gibt eine starke wissenschaftliche Debatte und Studien, die einen Zusammenhang zwischen langfristiger Einnahme von anticholinergen Substanzen (wie DPH) und einem erhöhten Demenz-Risiko im Alter nahelegen.
🌅 „Der Tag Danach“: Der DPH-Kater
Die anticholinerge Wirkung von DPH hält lange an. Der „Kater“ ist nicht nur eine simple Müdigkeit, sondern eine spürbare Vergiftungserscheinung.
- Starker „Brain Fog“: Extreme Benommenheit, Konzentrationsschwierigkeiten und das Gefühl, „neben sich zu stehen“ (Derealisation).
- Körperliche Symptome: Ein extrem trockener Mund („Pappmaul“), trockene Augen, verschwommenes Sehen und oft Verstopfung.
- Motorische Schwäche: Die Beine fühlen sich an wie Blei („Restless Legs“ können paradoxerweise auch auftreten) und die allgemeine Muskelschwäche ist deutlich spürbar.
- Psychische Nachwirkungen: Nach einem deliranten Trip kann die Verwirrung und Angst noch tagelang anhalten. Viele berichten von einer anhaltenden dysphorischen (gedrückten) Stimmung.
❤️ „Für Angehörige“: Do’s & Don’ts
Es ist ein Schock, leere Packungen von Schlaf- oder Reisetabletten im Zimmer seines Kindes zu finden. Die Verharmlosung („ist ja nur rezeptfrei“) ist eine große Falle.
- ✅ Do’s (Das hilft wirklich):
- Ernst nehmen: Informiere dich über die Risiken (Delir, Krampfanfall, Herztod). Verstehe, dass dies kein harmloser Streich ist.
- Das Gespräch suchen (nüchtern!): Sprich deine Sorge offen an. Frage, warum die Person das macht. Oft stecken Langeweile, Gruppenzwang oder Flucht vor Problemen dahinter.
- Aufklären statt Predigen: Zeige sachlich die Risiken auf. Viele wissen nicht, dass der „Trip“ ein Delirium ist und wie gefährlich es ist.
- Professionelle Hilfe einbeziehen: Kontaktiere eine Sucht- oder Jugendberatungsstelle. Sie können die Situation am besten einschätzen.
- ❌ Don’ts (Das macht es schlimmer):
- Panik & Hausarrest: Überreaktionen und Verbote führen nur zu mehr Heimlichkeit.
- Vorwürfe machen: „Wie dumm kann man sein?“ – solche Sätze beenden das Gespräch, bevor es angefangen hat.
- Vorräte verstecken: Das löst nicht das zugrundeliegende Problem (Neugier, Gruppenzwang, Flucht).

💡 Gesündere Alternativen & Strategien
Der Missbrauch von Antihistaminika ist oft eine verzweifelte oder uninformierte Suche nach Schlaf, Entspannung oder einem „Trip“.
- Statt DPH zum Schlafen:
- Schlafhygiene: Feste Schlafenszeiten, kein Handy im Bett, kühles Zimmer. Das ist die Basis von allem.
- Pflanzliche Mittel: Baldrian, Hopfen, Lavendel oder Passionsblume können sanft unterstützen.
- Melatonin: Kann helfen, den Einschlafrhythmus zu regulieren.
- Statt DPH zur Entspannung/Angstlösung:
- Atemtechniken: Langes Ausatmen (z.B. 4-7-8 Technik) beruhigt das Nervensystem sofort.
- Sport & Bewegung: Der effektivste natürliche Angstlöser und Stimmungsaufheller.
- Psychotherapie: Wenn Ängste dein Leben bestimmen, ist das der einzig nachhaltige Weg.
Ausführliche FAQ
🤔 Welche Antihistaminika werden hauptsächlich missbraucht?
✅ Hauptsächlich die der 1. Generation, wie Diphenhydramin (DPH) oder Dimenhydrinat (das ist DPH kombiniert mit einem leichten Stimulans, bekannt aus Reisetabletten wie Vomex A®). Der Grund ist, dass sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn eine stark sedierende oder in hohen Dosen eine delirante Wirkung entfalten. Neuere Mittel der 2. Generation wie Cetirizin oder Loratadin haben dieses Missbrauchspotenzial praktisch nicht.
🤯 Ist der „Trip“ von Antihistaminika wie ein LSD-Trip?
❌ Nein, absolut nicht, und diese Verwechslung ist gefährlich. LSD ist ein Psychedelikum, das die Wahrnehmung verändert. Hohe Dosen von Antihistaminika wie DPH wirken als Delirantium. Das erzeugt ein Delirium – einen Zustand akuter Verwirrung und Realitätsverlust. Die Halluzinationen (z.B. Spinnen, Schattenmenschen) werden als real empfunden und sind fast immer extrem furchteinflößend und traumatisch.
😴 Sind rezeptfreie Schlafmittel mit Antihistaminika auch gefährlich?
✅ Ja, sie bergen genau die gleichen Risiken, da sie oft denselben Wirkstoff (meist Diphenhydramin) enthalten. Sie sind nur für die kurzfristige Anwendung und genau nach Packungsanweisung gedacht. Eine höhere Dosis zur Verstärkung der Wirkung oder die Kombination mit Alkohol ist genauso gefährlich wie der Missbrauch von Allergiemitteln und kann zu den gleichen schweren Nebenwirkungen führen.
🚨 Was ist die „Benadryl Challenge“?
✅ Das war ein extrem gefährlicher Social-Media-Trend, bei dem sich Jugendliche dazu herausgefordert haben, hohe Dosen Diphenhydramin (in den USA oft unter dem Markennamen Benadryl® verkauft) einzunehmen, um die deliranten Halluzinationen zu filmen. Diese „Challenge“ hat weltweit zu zahlreichen schweren Vergiftungen, Krankenhausaufenthalten und sogar Todesfällen durch Herzstillstand geführt.
🧠 Machen Antihistaminika der 1. Generation Demenz?
✅ Es gibt eine wachsende Zahl von Studien, die einen starken Zusammenhang zwischen der langfristigen und regelmäßigen Einnahme von stark anticholinergen Medikamenten (zu denen DPH gehört) und einem signifikant erhöhten Risiko für Demenz im Alter zeigen. Das Gehirn scheint durch die chronische Blockade des Acetylcholin-Systems Schaden zu nehmen. Das ist ein weiterer Grund, warum diese Mittel keine Dauerlösung sein sollten.
📖 Lesetipp zur Vertiefung
Das große Buch vom Schlaf von Matthew Walker
Viele greifen zu Antihistaminika, weil sie verzweifelt nach Schlaf suchen. Dieses Buch ist ein weltweiter Bestseller und erklärt brillant, warum Schlaf so unglaublich wichtig ist und wie er funktioniert. Statt zu einer riskanten Pille zu greifen, ist das Verständnis von echtem, gesundem Schlaf die beste und nachhaltigste Lösung.
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📚 Wissenschaftliche Quellen & Referenzen
- Pharmakologie & Toxikologie:
- Gelbe Liste / Rote Liste: Fachinformationen zu Diphenhydramin, Dimenhydrinat etc.
- Giftnotrufzentralen: Informationen zur Toxizität und Behandlung von Antihistaminika-Überdosierungen.
- Studien zu Langzeitrisiken (Demenz):
- Gray, S. L., et al. (2015). Cumulative use of strong anticholinergics and incident dementia. JAMA internal medicine.
- Hilfsangebote & Informationen:
- Drugcom.de (BZgA): Bietet qualitätsgesicherte Informationen zu Drogen und Medikamenten.
- Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS).
NeelixberliN Fazit: Respekt vor der Apotheke!
Antihistaminika der 1. Generation sind wirksame Medikamente, wenn sie richtig angewendet werden. Aber sie sind keine harmlosen Smarties. Der Missbrauch, insbesondere in hohen Dosen, um einen Rausch zu erzeugen, ist ein Spiel mit deiner psychischen und körperlichen Gesundheit. Der „Trip“ ist fast immer ein Horrortrip, von dem du vielleicht nicht mehr zurückkommst. Wenn du Schlafstörungen hast, probiere erst nicht-medikamentöse Maßnahmen. Und wenn du oder ein Freund Probleme mit dem Missbrauch dieser oder anderer Substanzen habt, holt euch Hilfe.