„Mein Sohn (29) ist süchtig, ich kann nicht mehr“: Ein Leitfaden für verzweifelte Eltern

„Mein Sohn (29) ist süchtig, ich kann nicht mehr“: Ein Leitfaden für verzweifelte Eltern

Ein Artikel aus der „Recovery & Beziehungen“-Serie von NeelixberliN

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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Sucht im familiären Umfeld, Suizidgedanken, Co-Abhängigkeit und die extreme psychische Belastung von Angehörigen, insbesondere Eltern.


Nach 28 Jahren Sucht & Recovery erhalte ich viele Nachrichten. Aber manche treffen dich wie ein Faustschlag in die Magengrube, weil sie so voller rohem, ungefiltertem Schmerz sind. Die folgende Nachricht ist eine davon. Ich habe die Erlaubnis, sie anonymisiert zu teilen, weil die Mutter, die wir „Susanne“ nennen, weiß, dass ihre Geschichte für Tausende von Eltern in Deutschland steht.

„Hallo, das ist ein Hilferuf einer Mama, mein Sohn (29) ist seit 10 Jahren süchtig, immer wieder clean und rückfällig (Ketamin), hat auch einen Suizidversuch hinter sich. Gerade wieder rückfällig geworden bin ich jetzt komplett am Ende, ich kann nicht mehr, ich kann ihn aber auch nicht sich selbst überlassen. Bitte bitte wie und wo kann ich Unterstützung bekommen. Ich hoffe auf eine Antwort vielen lieben Dank“

Liebe Susanne,

danke für deine offene und schmerzhafte Nachricht. Dein Hilferuf enthält den einen Satz, der das ganze Leid von Angehörigen zusammenfasst: „Ich kann nicht mehr, aber ich kann ihn auch nicht loslassen.“

Du steckst in einer Zwickmühle aus Liebe, Angst, Erschöpfung und einem erdrückenden Verantwortungsgefühl. Und ich möchte dir sagen: Deine Gefühle sind absolut berechtigt. Du bist am Ende deiner Kraft. Und das ist okay. Dieser Artikel ist meine Antwort an dich – und an alle Eltern, die diesen Kampf kämpfen.

Deine Liebe kann dein erwachsenes Kind nicht heilen, aber der Versuch, es zu tun, zerstört dich. Der radikalste und liebevollste Akt, den du als Mutter oder Vater tun kannst, ist aufzuhören, dein Kind zu retten, und anzufangen, dich selbst zu retten.


🎯 Die harten Fakten: Die unsichtbare Krankheit der Angehörigen

📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die unsichtbare Krankheit der Angehörigen

Die Belastung für Eltern suchtkranker Kinder ist extrem und messbar:

  • Hohe psychische Belastung: Eltern von erwachsenen Kindern mit Suchtproblemen weisen signifikant höhere Raten an Depressionen, Angststörungen und stressbedingten körperlichen Erkrankungen auf als die Vergleichsbevölkerung.
  • „Ambiguous Loss“ (Unklarer Verlust): Die Psychologin Pauline Boss prägte diesen Begriff. Er beschreibt den Zustand, ein Kind zu betrauern, das physisch noch da, aber durch die Sucht psychisch abwesend oder völlig verändert ist. Dieser Zustand ohne klaren Abschluss ist extrem zermürbend.
  • Enabling als häufiges Muster: Aus Liebe und Angst neigen Eltern besonders stark zu „Enabling“ (Verhalten, das die Sucht unbewusst unterstützt), z.B. durch finanzielle Unterstützung oder das Übernehmen von Verantwortung.
  • Selbsthilfe wirkt: Die Teilnahme an Angehörigengruppen wie Nar-Anon oder speziellen Elterngruppen (z.B. ELSA in Deutschland) ist nachweislich eine der effektivsten Maßnahmen, um die eigene psychische Gesundheit zu verbessern und gesündere Bewältigungsstrategien zu erlernen.

🔬 Wissenschaft: Warum du in der Falle aus Liebe und Verantwortung steckst

Dein Gefühl, nicht loslassen zu können, hat tiefe psychologische und biologische Wurzeln:

  • Die biologische Bindung: Die Eltern-Kind-Bindung ist die stärkste, die es gibt. Der Instinkt, das eigene Kind zu beschützen, ist tief in uns verankert und schaltet sich nicht einfach ab, nur weil das Kind 29 ist.
  • Elterliche Schuldgefühle: Fast alle Eltern suchen die „Schuld“ für die Sucht ihres Kindes bei sich selbst („Was habe ich falsch gemacht?“). Dieses (meist unbegründete) Schuldgefühl führt zu einem übersteigerten Drang, alles „wiedergutzumachen“ und das Kind zu retten.
  • Die 3 K’s der Co-Abhängigkeit: Deine Situation ist ein Lehrbuchbeispiel für die Notwendigkeit dieses Mantras für Angehörige:
    • Du hast die **K**rankheit nicht verursacht.
    • Du kannst die **K**rankheit nicht kontrollieren.
    • Du kannst die **K**rankheit nicht kurieren (heilen).
  • Die Illusion der Kontrolle: Jeder Versuch, die Sucht deines Sohnes zu managen, gibt dir das trügerische Gefühl von Kontrolle in einer völlig unkontrollierbaren Situation. Loszulassen bedeutet, diese schmerzhafte Machtlosigkeit zu akzeptieren.

🎭 Wenn Liebe giftig wird: Die Anatomie des elterlichen „Enabling“

Eine Mutter, deren Energie abfließt, während sie eine zerbrochene Figur zusammensetzt. Symbol für die Selbstaufopferung und das Enabling von Eltern suchtkranker Kinder.
Im Versuch, die Scherben deines Kindes zusammenzusetzen, zerbrichst du oft selbst. Deine Energie fließt in ein Fass ohne Boden.

So schmerzhaft es ist: Jeder Versuch, deinen erwachsenen Sohn zu kontrollieren, zu überwachen oder ihm die Konsequenzen seines Handelns abzunehmen, wird die Sucht auf lange Sicht nur verlängern.

⚠️ Die Anatomie des elterlichen „Enabling“: Wie deine Hilfe ihm schadet

Aus Liebe und Angst tun Eltern oft Dinge, die sich richtig anfühlen, aber die Sucht nur verlängern, weil sie die Konsequenzen abfedern:

  • Finanzielle Unterstützung: Du gibst ihm Geld für „Miete“ oder „Essen“, obwohl du ahnst, dass es für Drogen draufgeht, weil die Angst, er könnte kriminell werden, größer ist.
  • „Hotel Mama“: Du lässt ihn zu Hause wohnen, wäschst seine Wäsche, machst ihm Essen. Das schafft einen sicheren Raum, in dem er ohne Konsequenzen weiter konsumieren kann.
  • Lügen und Vertuschen: Du rufst für ihn beim Arbeitgeber an, lügst vor Verwandten oder entschuldigst sein Verhalten, um die Fassade einer „normalen“ Familie aufrechtzuerhalten.
  • Emotionale Rettungsaktionen: Du lässt alles stehen und liegen, um ihn aus der Patsche zu helfen, wenn er wieder eine Krise hat. Er lernt nie, seine Probleme selbst zu lösen.

Jeder dieser Akte nimmt ihm einen kleinen Teil des Leidensdrucks, der aber oft der einzige Motor für den Wunsch nach Veränderung ist.


🛡️ Safer Use: Dein Notfallplan – Konkrete Schritte für DICH

Eine Mutter, die sich im Flugzeug zuerst selbst die Sauerstoffmaske aufsetzt, als Metapher für die Notwendigkeit der Selbstfürsorge für Angehörige.
Es ist das härteste Gesetz der Angehörigen-Hilfe: Setze immer zuerst deine eigene Sauerstoffmaske auf. Ein Helfer, der keine Luft bekommt, kann niemanden retten.

Panik lähmt. Ein Plan gibt Kraft. Du kannst deinen Sohn nicht ändern, aber du kannst DICH ändern. Das verändert die gesamte Dynamik. Hier sind konkrete Schritte nur für dich:

🛡️ Safer Use: Dein persönlicher Notfallplan – Schritte für DICH

Du kannst deinen Sohn nicht ändern, aber du kannst deine Reaktion ändern. Das ist deine Superkraft.

  1. Hol dir SOFORT Hilfe für DICH! Das ist nicht verhandelbar. Kontaktiere eine der unten genannten Stellen. Du brauchst einen geschützten Raum, um deinen Schmerz, deine Wut und deine Verzweiflung abzuladen.
  2. Setze liebevolle, aber knallharte Grenzen. Überlege dir EINE Sache, die du nicht mehr mittragen kannst, und kommuniziere sie ruhig und klar. Beispiele: „Ich liebe dich, aber ich werde dir ab heute kein Geld mehr geben.“ / „Ich bin immer für dich da, wenn du nüchtern bist. Wenn du konsumiert hast, werde ich das Gespräch beenden.“
  3. Erstelle einen Krisenplan für den Notfall (Suizidalität): Aufgrund seiner Vorgeschichte ist das überlebenswichtig. Definiere für dich: Wenn er wieder Suizidabsichten äußert, ist deine EINZIGE Aufgabe, sofort den **Notruf 112** zu wählen. Du bist nicht seine Therapeutin. Gib die Verantwortung an die Profis ab.
  4. Informiere dich. Lies Bücher, gehe zu Angehörigengruppen. Je mehr du über die Krankheit Sucht und die Dynamik der Co-Abhängigkeit weißt, desto weniger nimmst du das Verhalten deines Sohnes persönlich.

🤔 Ausführliche FAQ

🤔 Mein Sohn droht mit Suizid, wenn ich ihm nicht helfe (z.B. Geld gebe). Was soll ich tun?

✅ Das ist eine furchtbare emotionale Erpressung aus der Verzweiflung der Sucht. Deine Grenze ist trotzdem richtig. Die Antwort muss ruhig und klar sein: „Ich liebe dich und genau deshalb kann ich deine Sucht nicht weiter finanzieren. Wenn du dir ernsthaft etwas antun willst, ist meine Verantwortung, sofort professionelle Hilfe für dich zu rufen (den Notarzt 112).“ Damit gibst du die Verantwortung an die Profis ab und bleibst bei deiner Grenze.

❤️ Was bedeutet „Loslassen“ wirklich? Heißt das, ich soll ihn auf der Straße lassen?

✅ Nein. Loslassen bedeutet nicht, ihn nicht mehr zu lieben. Es bedeutet, die Illusion der Kontrolle loszulassen. Du lässt die Krankheit los, nicht den Menschen. Du hörst auf, Probleme für ihn zu lösen, die er selbst verursacht hat. Du lässt ihn die Konsequenzen spüren, denn nur daraus kann der Wunsch nach Veränderung entstehen. Das kann im Extremfall auch bedeuten, ihn nicht mehr zu Hause wohnen zu lassen.

🧠 Er ist doch mein Kind! Wie kann ich „Nein“ sagen, wenn er leidet?

✅ Indem du verstehst, dass du nicht „Nein“ zu deinem Kind sagst, sondern „Nein“ zur Krankheit. Du unterscheidest zwischen der Person, die du liebst, und dem Verhalten, das die Sucht verursacht. Dein „Nein“ zum Geld für Drogen ist ein „Ja“ zur Chance auf seine Nüchternheit. Es ist der härteste, aber liebevollste Akt.

💪 Was ist, wenn er wegen meiner Grenze obdachlos wird oder stirbt? Trage ich dann die Schuld?

✅ Das ist die größte Angst aller Eltern. Die brutale Wahrheit ist: Du bist nicht für seine Entscheidungen verantwortlich. Die Sucht ist die Krankheit, die ihn potenziell obdachlos macht oder tötet, nicht deine Grenze. Deine Grenze ist der Versuch, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Die Verantwortung für sein Leben liegt bei ihm, nicht bei dir. Dir in einer Angehörigengruppe diese Schuldfrage von der Seele zu reden, ist überlebenswichtig.

😔 Die Suchtberatungsstellen sind doch für die Süchtigen, oder?

✅ Nein, das ist ein häufiger Irrtum. Fast alle Suchtberatungsstellen (Caritas, Diakonie etc.) haben spezielle, kostenlose und anonyme Angebote nur für Angehörige. Sie sind eine der wichtigsten Anlaufstellen, um zu lernen, wie man mit der Situation umgeht, wo die eigenen Grenzen liegen und wie man sich selbst schützen kann. Du bist dort der Haupt-Klient.

📚 Lesetipp zur Vertiefung

📖 Lesetipp zur Vertiefung

Außer Kontrolle: Unsere Kinder und die Süchte von Ulla & Marina Dargel

Dieses Buch, geschrieben von einer selbst betroffenen Mutter und ihrer Tochter, ist ein brutal ehrlicher und zugleich unglaublich mitfühlender Ratgeber. Es spricht direkt die Verzweiflung, die Ohnmacht und die Schuldgefühle von Eltern an. Anhand ihrer eigenen Geschichte geben die Autorinnen konkrete, praxiserprobte Ratschläge, wie man lernt loszulassen, ohne aufzugeben, und wie man als Familie einen Weg aus dem Chaos der Sucht finden kann.

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🎬 NeelixberliN Fazit

Eine Mutter, die eine klare Grenze zu ihrem Sohn zieht, aber mit einer Haltung der Liebe. Symbol für gesundes, liebevolles Grenzen-Setzen.
Die stärkste Form der Liebe ist manchmal eine Grenze. Sie sagt: „Ich liebe dich genug, um dich nicht weiter deine Sucht unterstützen zu lassen. Und ich liebe mich genug, um nicht mit dir unterzugehen.“

Liebe Susanne, dein Schmerz ist greifbar. Aber deine Kraft ist es auch. Du hast 10 Jahre für deinen Sohn gekämpft. Jetzt ist es an der Zeit, für dich zu kämpfen.

Das fühlt sich an wie Verrat. Wie Aufgeben. Aber es ist das Gegenteil. Indem du dir selbst hilfst, die Dynamik veränderst und klare Grenzen setzt, tust du das Einzige, was ihm langfristig vielleicht helfen kann. Du hörst auf, die Krankheit zu füttern.

Die größte Kraft, die du deinem Sohn jetzt zeigen kannst, ist das Vorbild einer Person, die sich selbst so sehr liebt und respektiert, dass sie nicht mehr bereit ist, sich zerstören zu lassen – nicht einmal von ihrem eigenen, geliebten Kind.

Du zeigst ihm, dass Veränderung möglich ist – indem du bei dir selbst anfängst. Ich wünsche dir von Herzen alle Kraft der Welt auf diesem neuen, eigenen Weg.


📖 Quellen & Referenzen

  • Boss, Pauline (2006). Loss, Trauma, and Resilience: Therapeutic Work with Ambiguous Loss. (Grundlagenwerk zum Konzept des „unklaren Verlusts“).
  • ELSA – Elternkreise für suchtgefährdete und suchtkranke Söhne und Töchter e.V.: Die zentrale deutsche Selbsthilfeorganisation für Eltern.
  • Nar-Anon Family Groups: Offizielle Literatur und Veröffentlichungen zum 12-Schritte-Programm für Angehörige.
  • Journal of Marital and Family Therapy: Diverse Studien zur psychischen Belastung von Eltern erwachsener Kinder mit Suchtproblemen.

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Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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