Ein Artikel aus der „Männer, Emotionen und Recovery“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Einsamkeit, soziale Isolation, emotionale Intimität und die Angst vor Verletzlichkeit unter Männern.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery erinnere ich mich an zwei Arten von Männerfreundschaften. Die erste Art waren meine „Freunde“ aus der Suchtzeit: Saufkumpanen, Party-Bekanntschaften, Geschäftspartner. Wir haben zusammen Drogen konsumiert, Scheiße gebaut, über Sex-Geschichten und attraktive Fußballer (ja in meinem Fall sind die Hauptfiguren in Form von Fußballerinnen und Fußballer interessanter als der Ball) geredet. Mit Geschäftspartnern ging es immer nur um das große Geld und neue Kontakte aus der Szene, um noch mehr Geld zu machen und erfolgreicher zu werden. Wir haben alles geteilt – nur nicht, wie es uns wirklich geht.
Die zweite Art von Freundschaft lernte ich in der Recovery kennen. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal in einer Entgiftung einen neuen Freund, Klaas, getroffen habe. Bei ihm bewunderte ich von Anfang an, dass er emotional war und auch vor mir weinen konnte, wenn ihn Themen bewegten. Ich sah darin das erste Mal eine deutliche Stärke, hatte ich doch genau das immer mit noch mehr Opiaten bekämpft, um es nach außen nicht zeigen zu müssen. Bis ich es dann selbst konnte, mussten noch weitere zwei Jahre Cleanzeit von Opiaten vergehen, und es war ein unbeschreiblich befreiendes Gefühl. Auch die ernsthaften Fragen von männlichen Kontakten aus der Selbsthilfegruppe, wie ein einfaches „Wie geht es Dir“, waren wirklich auf mein Wohlbefinden fokussiert und nicht nur eine blöde Floskel, um dann schnell in ein Thema zu schwanken, wo man wieder als „cool“ und „männlich“ wirkt.
Wir Männer sind Meister darin, nebeneinander zu existieren, aber wir sind oft Analphabeten, wenn es darum geht, miteinander in emotionale Verbindung zu treten. Wir haben Fußball-Kumpels und Geschäftspartner, aber oft niemanden, den wir um 3 Uhr nachts anrufen können, wenn die Welt zusammenbricht. In der Recovery ist diese emotionale Wüste keine Lappalie. Sie ist ein akutes, tödliches Risiko.
Die Qualität deiner Männerfreundschaften in der Recovery ist kein nettes Extra – sie ist ein direkter Indikator für die Stabilität deiner Nüchternheit. Oberflächliche ‚Kumpels‘ sind ein Rückfallrisiko; echte, verletzliche Brüder sind deine stärkste Lebensversicherung.
🎯 Die harten Fakten: Die Epidemie der männlichen Einsamkeit
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Epidemie der männlichen Einsamkeit
Die emotionale Isolation von Männern ist keine gefühlte, sondern eine statistisch belegte Krise:
- 15% der Männer haben KEINEN engen Freund: Eine Umfrage des „Survey Center on American Life“ (2021) ergab, dass 15% der Männer angaben, keinen einzigen engen Freund zu haben – ein Anstieg um das Fünffache seit 1990.
- „Side-by-Side“ vs. „Face-to-Face“: Soziologische Studien belegen, dass Männerfreundschaften primär auf gemeinsamen Aktivitäten basieren (Schulter an Schulter), während Frauenfreundschaften auf emotionalem Austausch beruhen (von Angesicht zu Angesicht).
- Soziale Unterstützung & Nüchternheit: Eine Längsschnittstudie im „Journal of Psychoactive Drugs“ zeigte, dass ein starkes soziales Unterstützungsnetzwerk einer der signifikantesten Prädiktoren für langfristige Abstinenz ist.
- Einsamkeit als Todesursache: Forschungen (u.a. von Julianne Holt-Lunstad) haben gezeigt, dass chronische Einsamkeit und soziale Isolation so schädlich für die Gesundheit sind wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag.
🔬 Wissenschaft: Warum Männerfreundschaften oft emotional verarmen
Die Unfähigkeit vieler Männer, emotionale Intimität aufzubauen, ist das Ergebnis jahrzehntelanger gesellschaftlicher Konditionierung:
- Das Konkurrenz-Skript: Männer werden von klein auf dazu erzogen, miteinander zu konkurrieren, anstatt zu kooperieren. Schwäche zu zeigen, bedeutet, dem „Gegner“ einen Vorteil zu verschaffen.
- Die Angst vor Homophobie: Jede Form von emotionaler Nähe oder körperlicher Zuneigung zwischen Männern wird in vielen Kulturen sofort mit Homosexualität in Verbindung gebracht und sanktioniert. Diese tief sitzende Angst verhindert Intimität.
- Emotionale Autarkie als Ideal: Das Ideal des „Self-Made Man“ suggeriert, dass ein Mann seine Probleme allein lösen muss. Um Hilfe zu bitten oder emotionale Unterstützung zu brauchen, wird als Versagen interpretiert.
- Mangel an emotionalem Vokabular: Wie in den Vortagen besprochen, fehlt vielen Männern (aufgrund von Alexithymie) schlicht die Sprache, um über ihre inneren Zustände zu sprechen, was tiefe Gespräche unmöglich macht.
🎭 Die oberflächliche Falle: Warum unsere Freundschaften uns nicht retten

Das Problem ist nicht, dass Männer keine Freunde haben. Das Problem ist die Qualität der Freundschaften. Sie basieren oft auf dem ungeschriebenen Gesetz: „Wir reden nicht über Gefühle. Wir machen Sachen.“
- Der „Aktivitäts-Pakt“: Man trifft sich zum Fußball, zum Grillen, zum Zocken. Die Aktivität ist der Puffer, der verhindert, dass echter emotionaler Austausch stattfindet. Wenn die Aktivität wegfällt, bricht oft auch der Kontakt zusammen.
- Der „Lösungs-Modus“: Wenn ein Mann doch ein Problem andeutet, springen andere Männer sofort in den „Problem-Lösungs-Modus“. Statt zuzuhören und Empathie zu zeigen („Das muss sich scheiße anfühlen“), geben sie Ratschläge („Du musst einfach…“). Das signalisiert dem anderen: „Dein Gefühl ist ein Problem, das wir schnell beheben müssen“, anstatt „Dein Gefühl darf hier sein“.
- Die „Alles-Gut“-Lüge: Der Smalltalk in vielen Männergruppen ist eine Performance. Jeder tut so, als hätte er alles im Griff. Wer zugibt, dass er kämpft, bricht den Code und riskiert, als „schwach“ oder „Jammerlappen“ dazustehen.
Diese Art von Freundschaft mag im Alltag funktionieren. Aber wenn die Krise kommt – ein Rückfallgedanke, eine Trennung, eine Depression – ist sie absolut nutzlos. Sie ist wie ein Regenschirm aus Zucker.
⚠️ Die oberflächliche Freundschaft als Rückfall-Beschleuniger
Eine rein auf Aktivitäten basierende Freundesgruppe ist für einen Mann in Recovery eine tickende Zeitbombe:
- Kein Sicherheitsnetz in der Krise: Wenn der Suchtdruck kommt, gibt es keinen Freund, den man anrufen und sagen kann: „Bruder, ich hab Scheißgedanken.“ Die oberflächlichen Freunde würden das Thema wechseln oder einen dummen Witz machen.
- Druck auf die Partnerschaft: Mangels männlicher emotionaler Ventile wird die Partnerin (falls vorhanden) zur einzigen emotionalen Müllhalde. Das überlastet die Beziehung und schafft eine ungesunde Abhängigkeit.
- Verstärkung der Isolation: Umgeben von „Freunden“ zu sein, aber mit seinen inneren Kämpfen komplett allein zu sein, ist eine besonders schmerzhafte Form der Einsamkeit, die direkt in die Resignation führt.
- Förderung der „Alles-Gut“-Fassade: Oberflächliche Freundschaften zwingen dich, ständig eine Maske zu tragen. Diese Unehrlichkeit ist das exakte Gegenteil dessen, was Recovery von dir verlangt und macht dich innerlich mürbe.
🛡️ Safer Use: Echte Männerfreundschaften aufbauen

Echte, tiefe Männerfreundschaften fallen nicht vom Himmel. Sie sind das Ergebnis einer bewussten Entscheidung und erfordern Mut und Übung. Hier ist eine Anleitung.
🛡️ Safer Use: Eine Anleitung für echte Männerfreundschaften
Echte Verbindungen erfordern bewusste Anstrengung. Hier sind die Schritte:
- Redefiniere das Ziel: Triff dich mit einem Freund nicht mit dem Ziel „eine Runde Billard zu spielen“, sondern mit dem Ziel „herauszufinden, wie es ihm wirklich geht“. Die Aktivität ist der Rahmen, nicht der Hauptzweck.
- Mach den „Vulnerability-Test“: Beginne, kleine, ehrliche emotionale „Bissen“ zu teilen. Nicht deine tiefste Trauma-Geschichte, sondern etwas Kleines wie: „Ich hab gerade echt Schiss vor dem Gespräch mit meinem Chef morgen.“ Beobachte die Reaktion. Ist sie unterstützend oder abweisend?
- Sei der, der du dir wünschst: Wenn du dir einen Freund wünschst, der zuhört, sei du derjenige, der zuerst zuhört. Wenn du dir einen Freund wünschst, der ehrlich ist, sei du derjenige, der zuerst ehrlich ist. Du musst die Dynamik aktiv verändern.
- Übe, zuzuhören, ohne Lösungen anzubieten: Wenn ein Freund ein Problem teilt, unterdrücke den Impuls zu sagen „Du musst…“. Übe stattdessen, Fragen zu stellen wie „Wie fühlt sich das für dich an?“ oder einfach zu sagen „Das klingt verdammt hart.“
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Wie fange ich ein tiefes Gespräch an, ohne dass es komisch wird?
✅ Am besten in einem passenden Moment, nicht aus heiterem Himmel. Zum Beispiel nach einem Meeting oder bei einem Spaziergang. Beginne mit einer Ich-Botschaft: „Ich merke, wir reden oft über alles Mögliche, aber ich würde gerne mal ehrlich darüber reden, wie es mir gerade wirklich mit dem Druck geht. Wie siehst du das?“ Das öffnet die Tür, ohne den anderen zu überfallen.
❤️ Meine alten Freunde wollen nur über Oberflächliches reden. Muss ich den Kontakt abbrechen?
✅ Nicht unbedingt. Aber du musst die Erwartungen anpassen. Deine alten „Kumpels“ sind vielleicht gut für eine Runde Bowling, aber sie sind nicht dein Recovery-Support-System. Es ist wichtig, zu differenzieren: Welche Freundschaften geben dir Energie und welche ziehen dir Energie ab? Investiere deine Zeit und Verletzlichkeit weise.
🧠 Ich habe Angst, dass andere Männer mich für schwul halten, wenn ich mich emotional öffne.
✅ Diese Angst ist real und wurde uns antrainiert. Die Wahrheit ist: Echte, in sich ruhende Männer (egal ob hetero oder schwul) haben keine Angst vor emotionaler Nähe. Männer, die mit homophoben Sprüchen reagieren, verraten damit nur ihre eigene, tiefe Unsicherheit. Ihre Reaktion ist ein Filter, der dir hilft, die unsicheren von den sicheren Männern zu unterscheiden.
🎬 NeelixberliN Fazit

Ich wäre ohne meine Männerfreundschaften nicht nach 28 Jahren clean. Punkt. Ich habe eine kleine Gruppe von 2-3 Männern, die alles von mir wissen. Die meine dunkelsten Gedanken kennen, meine größten Ängste, meine kindischsten Unsicherheiten. Es sind die Männer, die ich anrufen kann, wenn ich kurz davor bin, einen Fehler zu machen. Die mir nicht sagen „Reiß dich zusammen“, sondern „Ich verstehe. Erzähl mir mehr.“
Diese Freundschaften aufzubauen war die härteste und zugleich lohnendste Arbeit meiner Recovery. Es bedeutete, mein Ego an der Tür abzugeben. Es bedeutete, das Risiko einzugehen, für meine Verletzlichkeit verurteilt zu werden. Und jedes Mal, wenn ich dieses Risiko einging und mit Akzeptanz und Verständnis belohnt wurde, wurde ein weiteres Gitterstäbchen meines inneren Gefängnisses durchgesägt.
Mein Rat: Hör auf, nach Kumpels zu suchen. Such nach Verbündeten. Such nach Männern, vor denen du es wagen kannst, unvollkommen zu sein. Ein einziger solcher Freund ist mehr wert als hundert Party-Bekanntschaften. Fang klein an. Sei der Erste, der die ehrliche Frage stellt. Sei der Erste, der eine ehrliche Antwort gibt. Du wirst erstaunt sein, wie viele andere Männer nur darauf gewartet haben.
⭐ NeelixberliN Empfehlung: Experte für Männer in der Recovery
Es gibt wenige Menschen, die sich so tief und ehrlich mit dem Thema Männer, Emotionen und Sucht auseinandersetzen. Einer von ihnen, den ich sehr schätze, ist:
Ashley Clive Anthony Baker
Sucht Experte für Männer
Jemand, den ich nicht nur liebe, weil er eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Figur von NeelixberliN hat oder weil seine Initialen A.C.A.B. sind (was bei mir spezielle Assoziationen weckt 😉), sondern weil seine Arbeit verdammt gut und wichtig ist.
Wenn dich die Themen aus dieser Serie bewegen, schau dir unbedingt seinen Instagram-Kanal an und kontaktiere ihn für mehr Informationen zum Thema Männer, Sucht und Emotionen.