Umfassendes Drogenlexikon von NeelixberliN – Wissenschaftlich fundiert, ehrlich und aktuell
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Hey Du, Sex ist eine der schönsten und intimsten Erfahrungen, die wir machen können. Aber was passiert, wenn die Lust zur Last wird? Wenn aus Verlangen ein unkontrollierbarer Zwang wird, der dein Leben, deine Beziehungen und dein Selbstwertgefühl zerstört?
Dann sprechen wir von Sexsucht. Ein Thema, das krass persönlich und mit extremer Scham belegt ist. Viele Betroffene fühlen sich wie Monster, sind innerlich zerrissen und völlig allein mit ihrem Problem. Aber du bist damit nicht allein. Und es ist keine moralische Verfehlung, sondern eine behandelbare Verhaltenssucht. Lass uns offen darüber reden.
⛓️ Was ist Sexsucht? Der Zwang hinter der Lust
Sexsucht ist keine offizielle Diagnose im klassischen psychiatrischen Handbuch (DSM-5), was die Anerkennung oft erschwert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Problem aber erkannt und im ICD-11 als „Zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung“ klassifiziert.
Es geht nicht darum, ob du eine hohe Libido hast oder gerne Sex hast. Es geht um die beiden Kernmerkmale jeder Sucht: Kontrollverlust und Leidensdruck.
Die Sucht kann sich in vielen Formen zeigen, oft auch kombiniert:
- Zwanghafter und exzessiver Konsum von Pornografie.
- Exzessive und zwanghafte Masturbation.
- Ständiger Wechsel von Sexualpartnern (Promiskuität).
- Häufige Nutzung von Prostitution, Escorts oder Cybersex.
- Riskantes Sexualverhalten (z.B. ungeschützter Sex, Exhibitionismus), das gegen die eigenen Werte verstößt.
Der Kern ist immer derselbe: Du musst eine sexuelle Handlung ausführen, um einen inneren Druck oder unerträgliche Gefühle (wie Einsamkeit, Stress, Leere, Angst, Scham) zu betäuben – obwohl du weißt, dass es dir und anderen langfristig schadet. Die Realität dieses Problems ist so bekannt, dass Entzugskliniken oft strenge Regeln gegen sexuelle Kontakte haben und intern mit dem höchsten Datenverbrauch durch Pornoseiten zu kämpfen haben.
🧠 Neurobiologie: Wie Sex zur Droge wird
Sexsucht folgt im Gehirn demselben Teufelskreis wie eine Drogensucht. Es ist der klassische Suchtzyklus, der das Belohnungssystem kapert.
- Der Trigger: Ein inneres Gefühl (Einsamkeit, Stress, Leere) oder ein äußerer Reiz (Bild, Werbung) löst den Drang aus.
- Das Craving: Das Suchtgedächtnis wird aktiviert. Das Gehirn schreit nach der schnellen Dopamin-Lösung, die es gelernt hat.
- Das Ritual & die Handlung: Es beginnt ein oft ritualisiertes Verhalten (z.B. stundenlanges Suchen nach dem „perfekten“ Porno), gefolgt von der sexuellen Handlung (z.B. Masturbation).
- Die „Belohnung“: Der Orgasmus führt zu einer massiven Ausschüttung von Dopamin und körpereigenen Opioiden (Endorphinen), was eine kurzfristige, intensive Erleichterung und Betäubung der negativen Gefühle bewirkt.
- Aus der Praxis: Genau dieser Mechanismus greift oft während eines harten Drogenentzugs. Ich selbst habe beim Polamidon-Entzug gemerkt, wie der Drang zur Masturbation überwältigend wurde, um die körperlichen Qualen („Affen“) kurz zu lindern. Später in der Therapie lernte ich den Grund: Mein Körper versuchte verzweifelt, durch den Orgasmus eigene Opiate freizusetzen, um den Entzugsschmerz zu bekämpfen.
- Der Absturz: Kurz nach der Handlung setzen massive Scham-, Schuld- und Ekelgefühle ein. Diese negativen Emotionen sind der perfekte Nährboden und Trigger für den nächsten Zyklus.

💔 Die Folgen: Von kaputten Beziehungen bis zur totalen Leere
Ein zwanghaftes Sexualverhalten hat massive und zerstörerische Konsequenzen für alle Lebensbereiche:
- Mentale Gesundheit: Erhöhtes Risiko für Depressionen, Angststörungen, ein zerstörtes Selbstwertgefühl und ein Teufelskreis aus tiefer Scham und Schuldgefühlen.
- Beziehungen: Zerstörtes Vertrauen durch Lügen und Heimlichkeit, Unfähigkeit zu echter emotionaler Nähe und Intimität, was zu Trennungen und Einsamkeit führt.
- Sexuelle Probleme (Paradox): Unzufriedenheit mit „normalem“, liebevollem Sex, Erektionsstörungen bei echter Intimität (insbesondere bei Pornosucht), Orgasmus-Schwierigkeiten.
- Soziale Isolation: Rückzug von Freunden, Familie und Hobbys, um mehr Zeit für das Suchtverhalten zu haben.
- Gesundheit & Recht: Erhöhtes Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten (STIs) durch riskantes Verhalten oder sogar finanzielle und strafrechtliche Konsequenzen.
💔 Die Anhedonie-Falle: Wenn echte Intimität langweilig wird
Eine der tragischsten Folgen der Sexsucht, insbesondere der Pornosucht, ist die Zerstörung der Fähigkeit, normale Intimität zu genießen (sexuelle Anhedonie).
- Abstumpfung (Toleranz): Dein Gehirn wird ständig mit unnatürlich hohen und schnellen sexuellen Reizen überflutet (z.B. durch schnellen Wechsel von Porno-Szenen). Es stumpft ab und die Dopamin-Rezeptoren werden herunterreguliert.
- Unrealistische Erwartungen: Echter Sex mit einem Partner, der emotionale Verbindung, Kommunikation und Geduld erfordert, kann mit diesen „Super-Reizen“ nicht mithalten.
- Die Folge: Echter Sex fühlt sich „langweilig“, „anstrengend“ oder „nicht intensiv genug“ an. Es kann zu Erektions- oder Orgasmusproblemen mit einem echten Partner kommen, während die Masturbation zu Pornos weiterhin funktioniert. Das zerstört Beziehungen und das eigene Selbstwertgefühl.

💪 Dein Weg Raus: Die Kontrolle zurückgewinnen
Der wichtigste und mutigste Schritt ist, dass Du Dir eingestehst, dass Du ein Problem hast, die Kontrolle verloren hast und etwas ändern willst. Sucht ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche.
- Verstehe deine Trigger: Was löst den Drang aus? Langeweile? Stress? Einsamkeit? Wut? Angst? Das Erkennen der Auslöser ist der erste Schritt.
- Brich die Isolation & Scham: Das ist der schwerste, aber wichtigste Schritt. Sprich mit einer Person, der Du absolut vertraust, oder wende dich an eine anonyme Beratungsstelle.
- Such Dir professionelle Hilfe: Du musst das nicht allein schaffen. Es gibt spezialisierte Therapeuten und Gruppen, die genau wissen, was du durchmachst.
🌅 „Der Tag Danach“: Der emotionale Kater
Im Gegensatz zu Drogen gibt es oft keinen direkten körperlichen Kater, aber der emotionale und psychische Absturz nach dem Ausleben des Zwangs ist brutal.
- Überwältigende Scham & Schuld: Das Gefühl, gegen die eigenen Werte verstoßen und die Kontrolle verloren zu haben, ist oft das dominanteste Gefühl.
- Innere Leere & Depression: Der kurze Dopamin-Kick ist vorbei, übrig bleibt oft eine tiefe Leere und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die Probleme, vor denen man fliehen wollte, sind jetzt noch größer.
- Erschöpfung: Stundenlanges, zwanghaftes Verhalten ist körperlich und geistig extrem anstrengend.
- Die Gefahr: Genau dieser Zustand aus Scham, Leere und Erschöpfung ist der stärkste Trigger, um den Kreislauf sofort wieder zu starten und erneut die kurzfristige Betäubung zu suchen.
❤️ „Für Angehörige“: Do’s & Don’ts
Als Partner eines Sexsüchtigen fühlt man sich oft verraten, nicht gut genug und zutiefst verletzt. Deine Gefühle sind absolut berechtigt.
- ✅ Do’s (Das hilft wirklich):
- Verstehe die Krankheit: Es geht nicht (nur) um dich. Es ist ein zwanghafter Versuch deines Partners, innere Schmerzen zu regulieren. Das entschuldigt das Verhalten nicht, aber es erklärt es.
- Setze klare Grenzen: Definiere, was für dich in der Beziehung nicht mehr akzeptabel ist (z.B. Lügen, riskantes Verhalten). Halte diese Grenzen konsequent ein.
- Such dir selbst Hilfe: Du brauchst Unterstützung. Wende dich an eine Beratungsstelle für Angehörige oder eine Selbsthilfegruppe (z.B. S-Anon).
- ❌ Don’ts (Das macht es schlimmer):
- Kontrollieren & Spionieren: Das Handy zu durchsuchen oder den Browserverlauf zu checken, zerstört das letzte Vertrauen und schafft nur mehr Heimlichkeit.
- Dich selbst verantwortlich machen: Du bist nicht der Grund für die Sucht deines Partners.
- Das Verhalten decken oder entschuldigen: Damit wirst du zum Teil des Suchtsystems (Co-Abhängigkeit).
💡 Gesündere Alternativen & Strategien
Der Zwang zur sexuellen Handlung ist oft ein Symptom für tiefere Probleme. Nachhaltige Heilung bedeutet, neue Wege zu finden, um mit diesen Ursachen umzugehen.
- Gegen Einsamkeit & Leere:
- Echte soziale Kontakte: Investiere aktiv in tiefe, ehrliche Freundschaften. Selbsthilfegruppen sind hier ein sicherer Ort, um Isolation zu durchbrechen.
- Sinnstiftende Aktivitäten: Finde Hobbys oder ehrenamtliche Tätigkeiten, die dir ein Gefühl von Sinn und Selbstwirksamkeit geben.
- Gegen Stress & Anspannung:
- Sport & Bewegung: Eines der besten Mittel, um Stresshormone abzubauen und das Nervensystem zu regulieren.
- Achtsamkeit & Meditation: Lerne, deine inneren Zustände wahrzunehmen und auszuhalten, ohne sofort darauf reagieren zu müssen.
- Für eine gesunde Intimität:
- Kommunikation lernen: Übe in der Therapie und mit deinem Partner, offen und verletzlich über deine wahren Bedürfnisse, Ängste und Wünsche zu sprechen.
🙏 Wo du WIRKLICH Hilfe findest (anonym & professionell)
Es gibt viele Stellen, an die Du Dich wenden kannst – oft kostenlos und anonym:
- Suchtberatungsstellen: Suche online nach „Suchtberatung [Deine Stadt]“. Viele kennen sich auch mit Verhaltenssüchten aus oder können dich an spezialisierte Stellen verweisen.
- Therapeutensuche: Suche gezielt nach Psychotherapeuten mit Schwerpunkt „Sucht“ oder „Sexsucht/Hypersexualität“ auf Portalen wie Therapie.de.
- Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen ist extrem wertvoll. Die bekanntesten sind 12-Schritte-Gruppen:
- Sexaholics Anonymous (SA)
- Sex and Love Addicts Anonymous (SLAA)
- Telefonseelsorge: Rund um die Uhr erreichbar unter 0800 / 111 0 111.

Ausführliche FAQ
🤔 Bin ich sexsüchtig, wenn ich eine hohe Libido habe?
✅ Nein, nicht zwangsläufig. Eine hohe Libido ist ein natürliches Verlangen. Der entscheidende Unterschied zur Sucht ist der Kontrollverlust und der Leidensdruck. Genießt du deine Sexualität oder musst du zwanghaft sexuelle Handlungen ausführen, um negative Gefühle zu betäuben? Führt dein Verhalten zu ernsthaften Problemen in deinem Leben? Wenn du es nicht mehr steuern kannst und darunter leidest, ist es ein Warnsignal.
💻 Ist Sexsucht das Gleiche wie Pornosucht?
✅ Sie sind eng verwandt und überschneiden sich oft. Bei der Pornosucht steht der zwanghafte Konsum von pornografischem Material im Vordergrund. Bei der Sexsucht geht es um den Zwang zur sexuellen Handlung selbst (mit Partnern, durch Masturbation etc.). Beide fallen unter die neue klinische Diagnose „Zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung“ und haben dieselben neurobiologischen Wurzeln.
🤝 Wie finde ich eine Selbsthilfegruppe wie SA oder SLAA?
✅ Am einfachsten findest du Meetings über die offiziellen deutschen Webseiten der Gemeinschaften. Suche online nach „Sexaholics Anonymous Deutschland“ oder „SLAA Deutschland“. Dort gibt es Meeting-Listen für verschiedene Städte sowie Informationen zu Online-Meetings, die einen anonymen ersten Einstieg ohne Hürden ermöglichen können.
♀️ Können auch Frauen sexsüchtig sein?
✅ Ja, absolut. Obwohl das Stigma und die öffentliche Wahrnehmung oft auf Männer fokussiert sind, sind Frauen genauso von zwanghaftem Sexualverhalten betroffen. Die Sucht kann sich anders äußern (z.B. mehr Fokus auf romantische Obsessionen und Beziehungs-Hopping), aber der zugrundeliegende Mechanismus des Kontrollverlusts und der Emotionsregulation ist derselbe. Hilfsangebote wie SLAA sind für alle Geschlechter offen.
therapy Was ist der erste Schritt in einer Therapie?
✅ Der erste Schritt ist in der Regel eine umfassende Diagnostik. Der Therapeut wird mit dir zusammen erarbeiten, welche Form das zwanghafte Verhalten annimmt, was die Trigger sind und welche zugrundeliegenden Probleme (z.B. Trauma, Bindungsstörungen, Depression) damit „behandelt“ werden. Danach wird ein individueller Therapieplan erstellt, der oft das Erlernen von Skills zur Emotionsregulation und die Aufarbeitung der Ursachen beinhaltet.
📚 Wissenschaftliche Quellen & Referenzen
- Diagnostische Klassifikation:
- ICD-11 (Internationale Klassifikation der Krankheiten der WHO): Kapitel 6C72 „Zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung“.
- Fachgesellschaften & Informationen:
- Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft (DGSMTW)
- Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS): Bietet Informationen zu Verhaltenssüchten.
- Wissenschaftliche Fachliteratur:
- Potenza, M. N. (2006). Should addictive disorders include non-substance-related conditions?. Addiction.
- Voon, V., et al. (2014). Neural correlates of sexual cue reactivity in individuals with and without compulsive sexual behaviours. PloS one.
- Selbsthilfegruppen (deutsche Webseiten):
- sa-deutschland.org (Sexaholics Anonymous)
- slaa.de (Sex and Love Addicts Anonymous)
NeelixberliN Fazit: Die Sucht sucht sich immer einen Weg
Sexsucht ist ein echtes Problem, und ich kenne es nur zu gut, gerade in der Recovery. Nachdem ich den härtesten Entzug vom Polamidon nach 13 Wochen körperlich einigermaßen überstanden hatte, war Sex meine neue Droge. Beziehungen in der Therapie und auch danach wurden schnell zu einem meiner größten Themen. Ich wusste, ich lenke mich damit ab, denn zum Sex gehören ja auch Kuscheln und Nähe, was wiederum Oxytocin freisetzt und die innere Leere füllt.
Das Suchtgedächtnis ist ein Arschloch. Es ist noch gar nicht so lange her, da bekam ich wieder so ein Angebot. Nur mal kurz zum „piepmatzen“ vorbeikommen. Ich wusste, es ist falsch und eine Gefahr für meine Stabilität. Aber der Druck danach war so extrem, es war, als hätten dort zwei Kilo Kokain auf mich gewartet. Ich habe mir an dem Tag bestimmt drei Mal einen runtergeholt, nur um nicht dort hinzugehen. Aber damit war der Mechanismus erst sprichwörtlich in Gang gesetzt worden.
Ich habe in dieser Nacht meinem inneren Druck nachgegeben und dort übernachtet. Zwar clean und ohne Drogen, aber im Rausch von Sex und Oxytocin. Das zeigt, wie tief diese Muster sitzen. Der erste Schritt ist, diese Mechanismen bei sich selbst ehrlich zu erkennen. Der zweite ist, sich Unterstützung zu holen. Du verdienst echte, gesunde und frei gewählte Intimität – nicht einen Zwang, der dich kontrolliert.