Umfassendes Drogenlexikon von NeelixberliN – Wissenschaftlich fundiert, aktuell und ehrlich
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Wenn wir „Sucht“ hören, denken wir an Drogen, Alkohol, Zigaretten. Aber was, wenn die gefährlichste Droge manchmal gar keine Substanz ist? Was, wenn es die Arbeit ist, die dich bis zum Burnout treibt? Der Sport, den du trotz Schmerzen durchziehst? Oder das endlose Scrollen auf Instagram? Wir reden heute über Verhaltenssüchte. Die unsichtbare Sucht, bei der nicht die Nadel oder die Pille, sondern eine alltägliche Handlung zum zerstörerischen Zwang wird.
Definition: Was ist eine Verhaltenssucht?
Eine Verhaltenssucht (auch nicht-stoffgebundene Sucht) ist eine psychische Störung, bei der ein an sich normales oder sozial akzeptiertes Verhalten zwanghaft, exzessiv und unkontrollierbar wird. Die Betroffenen setzen das Verhalten fort, obwohl es nachweislich negative Konsequenzen für ihre Gesundheit, ihre sozialen Beziehungen und ihr Leben hat.
- Chemische Bezeichnung: Nicht anwendbar. Der „Wirkstoff“ ist die Handlung selbst und die dadurch ausgelöste Freisetzung körpereigener Botenstoffe (v.a. Dopamin).
- Synonyme und Straßennamen: Zwanghaftes Verhalten, Impulskontrollstörung (veralteter Begriff), umgangssprachlich auch „Sucht nach…“ Arbeit, Sport, Sex etc.
- Formen der Verhaltenssucht:
- Anerkannte Störungen (nach ICD-11): Glücksspielsucht, Gamingsucht (Störung durch Computerspielen).
- Weitere klinisch relevante Formen: Arbeitssucht (Workaholism), Sportsucht, Kaufsucht, Sex- & Pornosucht, Social-Media- & Internetsucht, Essstörungen (mit süchtigen Zügen wie Binge-Eating).
- Historischer Kontext: Das Konzept der Verhaltenssucht ist relativ neu, gewinnt aber durch die Digitalisierung und die „Always-on“-Kultur massiv an Bedeutung.
🧠 Neurobiologie: Der gleiche Kick, eine andere Quelle
Deinem Gehirn ist es egal, ob der Rausch von einer Substanz oder einer Handlung kommt. Der zugrundeliegende neurobiologische Prozess im Belohnungssystem ist identisch.
- Dopamin-Ausschüttung: Die süchtig machende Handlung (z.B. ein Sieg im Spiel, ein Kauf) löst eine starke Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin im Nucleus Accumbens aus.
- Lernprozess: Das Gehirn verknüpft die Handlung mit einem intensiven Belohnungsgefühl und will dieses wiederholen. Es entsteht ein starkes Verlangen (Craving).
- Toleranz & Kontrollverlust: Mit der Zeit stumpfen die Dopamin-Rezeptoren ab. Man braucht eine immer intensivere oder häufigere Ausübung der Handlung für den gleichen Effekt (Toleranz). Der präfrontale Kortex, zuständig für rationale Entscheidungen, verliert an Einfluss – der Kontrollverlust setzt ein.
Die Wirkung: Wie eine Handlung zum Rausch wird
Im Gegensatz zu einer Substanz, die von außen zugeführt wird, erzeugt eine Verhaltenssucht den Rausch von innen. Der Mechanismus im Gehirn ist jedoch erschreckend ähnlich.
- Wirkungseintritt und -dauer:
- Der „Kick“ (Dopamin-Ausschüttung) tritt während oder direkt nach der Handlung ein (z.B. beim Abschluss eines Projekts, beim Erreichen eines Sportziels, beim Kauf).
- Die „Wirkdauer“ ist oft kurz, was zu einem schnellen Verlangen führt, die Handlung zu wiederholen, um das gute Gefühl erneut zu erleben oder unangenehme Gefühle zu vermeiden.
- Gewünschte Effekte: Euphorie, Gefühl von Stärke und Kompetenz, Stressabbau, Ablenkung von negativen Gedanken, Gefühl der Kontrolle, soziale Anerkennung (z.B. für beruflichen Erfolg).
- Ungewünschte Effekte & Entzugserscheinungen: Innere Unruhe, Reizbarkeit, Angst und depressive Verstimmungen, wenn die Handlung nicht ausgeführt werden kann. Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und ein starkes, zwanghaftes Verlangen (Craving) nach der Handlung.

Risiken und Nebenwirkungen
Die Konsequenzen einer Verhaltenssucht sind genauso real und zerstörerisch wie bei einer Drogensucht und betreffen alle Lebensbereiche.
- Psychische Folgen: Burnout, schwere Erschöpfungszustände, Depressionen und Angststörungen sind häufige Folgen des chronischen Stresses und der Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse.
- Physische Folgen: Schlafentzug, Mangelernährung, Herz-Kreislauf-Probleme (bei Arbeitssucht), orthopädische Schäden und Verletzungen (bei Sportsucht), sexuell übertragbare Krankheiten (bei Sexsucht).
- Soziale Folgen: Vernachlässigung von Familie, Freundschaften und Partnerschaft, was zu sozialer Isolation, Trennungen und Vereinsamung führt.
- Finanzielle Folgen: Besonders bei Kauf- und Glücksspielsucht kommt es oft zu massiver Verschuldung, finanzieller Instabilität und rechtlichen Problemen.
🔬 Offizielle Diagnose: Was sagt die Wissenschaft (ICD-11)?
Die Anerkennung von Verhaltenssüchten als offizielle Krankheiten ist ein wichtiger Schritt zur Entstigmatisierung. Im Krankheitskatalog ICD-11 der WHO sind folgende Störungen klar definiert:
- Glücksspielstörung (Gambling Disorder): Gekennzeichnet durch wiederholtes, unkontrollierbares Glücksspiel trotz negativer sozialer und finanzieller Konsequenzen.
- Störung durch Computerspielen (Gaming Disorder): Definiert durch Kontrollverlust über das Spielen sowie die zunehmende Priorisierung des Spielens vor anderen Lebensinteressen.
- Andere Verhaltenssüchte: Störungen wie zwanghaftes Sexualverhalten oder Kaufsucht werden im ICD-11 ebenfalls beschrieben, aber noch nicht unter den „Abhängigkeitserkrankungen“, sondern als „Störungen der Impulskontrolle“ klassifiziert. Die Forschung hierzu läuft auf Hochtouren.
Aktuelle Forschung (2025)
Die Forschung zu Verhaltenssüchten ist ein schnell wachsendes Feld, angetrieben durch die Digitalisierung.
- Prävalenz in Deutschland: Studien der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS, 2024/2025) zeigen besorgniserregende Trends, insbesondere bei der Gaming- und Social-Media-Sucht unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Schätzungen zufolge zeigen Hunderttausende in Deutschland ein pathologisches Nutzungsverhalten.
- Neurobiologische Marker: Forscher arbeiten daran, spezifische Marker im Gehirn zu identifizieren, die eine Prädisposition für Verhaltenssüchte anzeigen könnten. Studien mit fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) zeigen ähnliche Veränderungen im präfrontalen Kortex wie bei stoffgebundenen Süchten, was auf eine beeinträchtigte Impulskontrolle hindeutet.
- Therapieansätze: Die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) ist gut belegt. Neue Ansätze wie achtsamkeitsbasierte Therapien und VR-gestützte Behandlungen (z.B. zur Konfrontation mit Spiel- oder Kaufsituationen) werden derzeit intensiv erforscht.
Meine persönliche Erfahrung: Arbeitssucht als Skill & Falle
Ich erlebe das gerade selbst. Dieses Wochenende habe ich nach meinem Rückfall nur 6 Stunden geschlafen. Nicht wegen Stoff, sondern weil mich die Arbeit an neelixberlin.de nicht loslässt. Der schnelle und perfekte Erfolg ist mein aktueller Rausch. Ich bekomme das Gefühl, ich könnte morgen nicht mehr da sein und muss das unbedingt noch schaffen. Ich rede mir ein, dass ich nächste Woche ruhiger mache – aber das ist genauso eine Lüge wie die, auf Stoff zu verzichten. Früher habe ich meine IT-Affinität im Darknet und der Hackerszene ausgelebt. Heute setze ich sie für dieses Projekt ein, für etwas Gutes. Aber der Mechanismus bleibt: Ich muss sofort alles können, immer besser werden. Es ist ein Zwang, bei dem ich genauso harten Techno höre wie damals auf Speed oder Koks. Die Arbeit an der Seite ist mein größter Skill, aber auch meine größte aktuelle Suchtgefahr.

Behandlung und Recovery
Die Behandlung ist eine Herausforderung, denn anders als bei Drogen kann man oft nicht einfach komplett „abstinieren“. Es geht um die Wiedererlangung von Kontrolle.
- Ziel ist Balance: Das Ziel ist nicht die komplette Vermeidung (man kann nicht aufhören zu arbeiten oder zu essen), sondern das Erlernen eines kontrollierten, gesunden und achtsamen Umgangs mit dem Verhalten.
- Verhaltenstherapie (KVT): Gilt als Methode der Wahl. Hier lernen Betroffene, die auslösenden Situationen (Trigger), die automatischen Gedanken und die Funktion der Sucht zu verstehen. Es werden neue, gesündere Bewältigungsstrategien (Skills) für Stress, Leere und andere unangenehme Gefühle erarbeitet.
- Vorübergehende Abstinenz: In manchen Fällen (z.B. bei Gaming- oder Pornosucht) kann eine anfängliche, zeitlich begrenzte, komplette Abstinenz notwendig sein, um die zwanghaften Muster zu durchbrechen und dem Gehirn eine „Pause“ zu gönnen.
- Professionelle Hilfe: Suchtberatungsstellen, spezialisierte Kliniken für psychosomatische Erkrankungen und Psychotherapeuten sind die richtigen Anlaufstellen. Auch Selbsthilfegruppen (z.B. Anonyme Arbeitssüchtige, Anonyme Sexaholiker) können eine wichtige Stütze sein.
⚖️ Leidenschaft vs. Sucht: Wo liegt die Grenze?
Die Grenze zwischen intensivem Hobby und zwanghafter Sucht ist fließend, aber es gibt klare Unterscheidungsmerkmale. Frage dich ehrlich:
- Bereicherung vs. Einschränkung: Bereichert die Handlung dein Leben und gibt dir Energie (Leidenschaft) oder schränkt sie dein Leben ein, weil du alles andere dafür vernachlässigst (Sucht)?
- Freiheit vs. Zwang: Übst du die Handlung aus Freude und aus freiem Willen aus oder fühlst du dich innerlich gezwungen und wirst unruhig/gereizt, wenn du es nicht tun kannst?
- Positive vs. Negative Konsequenzen: Führt das Verhalten zu positiven Ergebnissen (neue Freunde, Fitness) oder zu negativen (Streit, Schulden, Erschöpfung), die du ignorierst?
Harm Reduction & Gesunder Umgang
Strategien zur Schadensminimierung und zum Aufbau eines gesunden Verhaltens:
- Digitale Auszeiten: Feste handyfreie Zeiten definieren (z.B. nach 20 Uhr, im Schlafzimmer). Apps nutzen, die die Bildschirmzeit tracken und begrenzen.
- Feste Arbeitszeiten: Klare Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit ziehen. Feierabend bedeutet Feierabend. Pausen bewusst einplanen und einhalten.
- Budgets setzen: Bei Kauf- oder Spielsucht feste finanzielle Limits setzen. Nur mit Bargeld einkaufen, Kreditkarten zu Hause lassen.
- Alternative Skills aufbauen: Finde andere Wege, um mit Stress umzugehen: Meditation, Sport (in einem gesunden Maß), soziale Kontakte, kreative Hobbys.
- Achtsamkeit praktizieren: Lerne, deine eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen. Frage dich vor der Handlung: „Was brauche ich gerade wirklich?“
Rechtliche Situation ⚖️
Im Gegensatz zu stoffgebundenen Süchten gibt es kein „Verhaltenssuchtmittelgesetz“. Die rechtlichen Konsequenzen sind meist indirekt:
- Glücksspielsucht: Kann zu massiver Verschuldung und damit verbundenen zivil- und strafrechtlichen Folgen (Betrug etc.) führen. Das Glücksspielrecht in Deutschland ist streng reguliert.
- Arbeitssucht: Kann arbeitsrechtliche Konsequenzen haben (z.B. bei Burnout, Kündigung). Das Arbeitsschutzgesetz dient dem Schutz vor Überlastung.
- Kaufsucht: Führt oft in die Schuldenfalle und kann Privatinsolvenzen nach sich ziehen.
Ausführliche FAQ
🤔 Ist eine Verhaltenssucht eine „echte“ Sucht?
✅ Ja, absolut. Auch wenn keine fremde Substanz in den Körper gelangt, sind die Prozesse im Gehirn (Belohnungssystem, Dopamin, Kontrollverlust) und die negativen Konsequenzen für das Leben identisch mit denen einer stoffgebundenen Sucht. Im neuen Krankheitskatalog ICD-11 der WHO werden Verhaltenssüchte wie Gaming- und Glücksspielsucht offiziell als Krankheiten anerkannt.
⚖️ Wie unterscheidet sich Leidenschaft von einer Verhaltenssucht?
✅ Leidenschaft bereichert dein Leben, Sucht schränkt es ein. Wenn du für ein Hobby brennst, gibt es dir Energie und Freude und ist ein ausbalancierter Teil deines Lebens. Wenn du süchtig bist, wird das Verhalten zum alleinigen Zentrum deines Lebens, du vernachlässigst alles andere, fühlst dich ohne schlecht und kannst nicht mehr aufhören, obwohl du die negativen Folgen spürst.
🔁 Muss ich bei der Therapie komplett mit dem Verhalten aufhören?
✅ Nicht immer. Das ist der große Unterschied zur Drogensucht. Während bei Substanzen oft nur komplette Abstinenz funktioniert, ist das Ziel bei vielen Verhaltenssüchten (wie Arbeits- oder Internetsucht) das Erlernen eines kontrollierten und gesunden Umgangs. Es kann aber sein, dass eine vorübergehende, komplette Pause Teil der Therapie ist, um die Zwangsmuster zu durchbrechen.

📚 Wissenschaftliche Quellen & Referenzen
- Weltgesundheitsorganisation (WHO). (2019).International Classification of Diseases, 11th Revision (ICD-11).
- Definiert und klassifiziert erstmals Störungen wie Glücksspiel- und Gamingsucht als offizielle Krankheitsbilder.
- Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). (2024).Jahrbuch Sucht 2024.
- Liefert aktuelle Zahlen und Fakten zur Verbreitung von Verhaltenssüchten wie Glücksspiel-, Gaming- und Internetsucht in Deutschland.
- Potenza, M. N. (2014).The neurobiology of behavioral addictions.Nature Reviews Neuroscience, 15(7), 435-450.
- Ein wegweisender Übersichtsartikel über die gemeinsamen neurobiologischen Grundlagen von stoffgebundenen und nicht-stoffgebundenen Süchten.
- Fachverband Medienabhängigkeit e.V.
- Bietet Informationen, Forschungsergebnisse und Adressen von Beratungsstellen speziell für Medien- und Internetsucht.
- Notfall-Kontakt: Bei akuten suizidalen Krisen die 112 oder die Telefonseelsorge (0800/111 0 111) anrufen.
- Info-Telefon Sucht & Drogen: 01806 313031 (auch für Angehörige).
Abschließende Warnung
Sucht hat viele Gesichter. Sie ist nicht immer das Pulver oder die Flasche. Manchmal tarnt sie sich als gesellschaftlich anerkannte Tugend – die „heldenhafte“ Überstunde, der „gesunde“ Marathon, der „erfolgreiche“ Social-Media-Auftritt. Hinterfrage dein eigenes Verhalten ehrlich. Was dient dir wirklich? Und wann wird die angebliche Lösung selbst zu deinem größten Problem? Der Moment, in dem du eine Handlung nicht mehr aus Freude tust, sondern aus dem Zwang, einen Schmerz nicht fühlen zu müssen, ist der Moment, in dem du die Kontrolle verlierst. Sei ehrlich zu dir selbst. Das ist der erste und wichtigste Schritt aus jedem Käfig.