Ein Artikel aus der „Männer, Emotionen und Recovery“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Wut, Aggression, emotionale Verdrängung und die dahinterliegenden Gefühle wie Angst, Scham und Trauer.
In meinen ersten Zeiten der Recovery war ich oft wütend. Rasend vor Wut. Unter Opiaten kannte ich diese Form von Emotion überhaupt nicht. Klar konnte ich sauer sein, aber es gab kein körperliches Gefühl von Bluthochdruck oder dem drängenden Suchtdruck, der damit einherging. Clean war die Wut anders. Sie war physisch. Aber im cleanen Zustand, ein kleiner Funke – eine unachtsame Bemerkung, ein alltägliches Problem – konnte eine emotionale Flut auslösen. Plötzlich fielen mir zu dieser einen Kleinigkeit unzählige andere Dinge ein, die mich an einer Person störten, und aus der Mücke wurde ein unerträglicher Elefant. Es fühlte sich an, als würde mein Suchthirn gezielt nach dem ultimativen Grund für einen Rückfall suchen.
Ich hielt diese Wut für meine Stärke. Sie fühlte sich kraftvoll an, sie gab mir Energie. Was für ein Bullshit. Ich ewig gebraucht, um zu verstehen: Diese Wut war nicht meine Stärke. Sie war der Bodyguard meiner Angst. Und manchmal weckten sie meine alten, kriminellen Adern, den Wunsch, meine Hacker-Fähigkeiten zu nutzen, um Menschen in den Boden zu stampfen. In der Welt der Männer ist Wut oft die einzige Emotion, die uns erlaubt wird.
Das Problem ist: Recovery ist der Prozess, sich den weggesperrten Gefühlen zu stellen. Wenn Wut dein einziger emotionaler Ausweg bleibt, ist deine Genesung von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Heute zerlegen wir, warum Wut die trügerischste Emotion für Männer in Recovery ist, wie sie als Maske dient und wie du lernst, sie abzunehmen, ohne dich selbst zu verlieren.
Die Wut, die dir als Mann als einziges Gefühl erlaubt wird, ist nicht deine Stärke – sie ist der Lärm, den deine unterdrückte Trauer, Angst und Scham machen, wenn sie verzweifelt versuchen, gehört zu werden.
🎯 Die harten Fakten: Wut als männliches Symptom
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Wut als männliches Alarmsignal
Die Fokussierung auf Wut ist keine Einbildung, sondern ein messbares Phänomen in der männlichen Psychologie:
- Symptom für Depression: Laut dem National Institute of Mental Health (NIMH) ist erhöhte Reizbarkeit und unangemessene Wut eines der häufigsten und am meisten übersehenen Symptome für Depression bei Männern.
- Sozial erlernt: Studien zur Sozialisation von Jungen (z.B. von Ronald F. Levant) zeigen, dass Jungen aktiv dazu ermutigt werden, „starke“ Emotionen wie Wut auszudrücken, während „schwache“ Emotionen wie Traurigkeit oder Angst sanktioniert werden.
- Rückfall-Indikator: Eine Studie im Journal „Addictive Behaviors“ fand heraus, dass eine schlechte emotionale Regulationsfähigkeit, insbesondere im Umgang mit Wut und Frustration, ein signifikanter Prädiktor für einen Rückfall ist.
- Biochemischer Kick: Ein Wutausbruch setzt Adrenalin und Noradrenalin frei. Dieser „Kick“ kann vom süchtigen Gehirn unbewusst als Ersatz für den fehlenden Rausch durch Drogen gesucht werden.
🔬 Wissenschaft: Wut als Bodyguard deiner verletzlichen Gefühle
In der Psychologie unterscheidet man zwischen primären und sekundären Emotionen. Dieses Konzept ist der Schlüssel, um männliche Wut zu verstehen.
- Primäre Emotionen: Das sind die unmittelbaren, ehrlichen Gefühle, die eine Situation in dir auslöst. Oft sind das verletzliche Gefühle wie Angst, Trauer, Scham, Enttäuschung oder Hilflosigkeit.
- Sekundäre Emotionen: Das ist die Emotion, die du über dein primäres Gefühl fühlst oder zeigst, oft weil sie sich sicherer oder akzeptabler anfühlt. Für Männer ist das fast immer Wut.
- Beispiel: Jemand kritisiert dich. Deine primäre Emotion ist Scham oder die Angst, nicht gut genug zu sein. Weil dieses Gefühl unerträglich und „unmännlich“ ist, reagierst du mit der sekundären Emotion Wut („Was fällt dir ein?!“).
- Das Eisberg-Modell: Deine Wut ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Die eigentliche Masse – die wahren Gefühle – liegt unsichtbar und gefährlich unter der Oberfläche.
🎭 Die wütende Maske: Warum Männer nur eine Emotion zeigen dürfen

Mythos 1: „Wut zu zeigen ist besser als Schwäche zu zeigen“
Dieser Glaubenssatz wird uns von klein auf eingeimpft. Ein Junge, der auf dem Schulhof weint, wird gehänselt. Ein Junge, der zurückschlägt, wird (manchmal sogar von Erwachsenen) als „stark“ gelobt. Wir lernen früh: Wut verschafft Respekt, Trauer bringt Verachtung. In der Recovery ist diese Logik tödlich. Dein Sponsor, deine Gruppe, dein Therapeut – sie alle können dir nur helfen, wenn du die „schwachen“ Gefühle zeigst. Deine Wut hält alle auf Abstand und verhindert genau die Hilfe, die du so dringend brauchst.
Mythos 2: „Meine Wut ist berechtigt“
Ja, oft ist sie das. In der Sucht wurde uns Unrecht angetan, und wir haben anderen Unrecht angetan. Es gibt tausend Gründe, wütend zu sein. Aber in der Recovery geht es nicht darum, im Recht zu sein. Es geht darum, heil zu werden. Chronische, berechtigte Wut ist wie Gift in kleinen Dosen zu trinken und zu hoffen, dass der andere daran stirbt. Sie schadet nur dir. Sie hält dich in der Vergangenheit gefangen und verhindert, dass du die Verantwortung für die Heilung deiner eigenen Wunden übernimmst.
⚠️ Risiken & der Teufelskreis der Wut
Wie das Suchthirn die Wut kapert:
In der Recovery kann das Suchthirn die Wut als Werkzeug missbrauchen. Eine Kleinigkeit (eine Mücke) wird zum Anlass genommen, eine Flut alter Verletzungen und Ärgernisse hochzuspülen und zu einem riesigen Problem zu machen (ein Elefant). So wird eine unerträgliche Situation geschaffen, die den ultimativen Grund für einen Rückfall oder einen destruktiven Ausbruch (den „Vernichtungsdrang“) rechtfertigen soll.
Die Zerstörungskraft von Wut in der Recovery:
- Sie isoliert dich: Ständige Wut treibt die Menschen weg, die dich unterstützen wollen. Niemand ist freiwillig der emotionale Mülleimer.
- Sie verhindert Selbstreflexion: Wut sucht die Schuld immer bei anderen und blockiert so die ehrliche Inventurarbeit der Schritte 4 bis 9.
- Sie erschöpft dich: Wut ist ein extrem energieaufwändiger Zustand, der dich für das „Fuck-it-Syndrom“ anfällig macht.
- Sie ist der direkte Weg zum Rückfall: Ein Wutanfall, der keine Lösung bringt, endet oft in Ohnmacht – der perfekte Nährboden für das Suchtgedächtnis.
🛡️ Safer Use: Vom Wut-Manager zum Gefühls-Forscher

Das Ziel ist nicht, Wut abzuschaffen. Wut ist ein wichtiges Signal. Das Ziel ist, zu lernen, was sie dir sagen will. Du musst vom blinden Wut-Reakteur zum neugierigen Gefühls-Forscher werden.
🛡️ Safer Use: Vom Wut-Reakteur zum Energie-Umwandler
Dein Ziel ist nicht, Wut zu unterdrücken, sondern ihre Energie zu kanalisieren und zu verstehen.
- Die goldene Frage stellen: Frage dich nicht „Wer ist schuld?“, sondern „Okay Gabriel, wie kannst DU trotz allem etwas Positives darin sehen und diese Energie in deine Arbeit stecken?“.
- Energie kreativ umwandeln: Verwandle den „Vernichtungsdrang“ in Schöpfungsdrang. Nutze die intensive Energie, um einen Tagebuch-Artikel zu schreiben, der deine Emotionen verarbeitet, oder stürze dich in ein komplexes Projekt (z.B. Programmieren), das volle Konzentration erfordert.
- Externen Druck ablassen: Wenn du merkst, dass Personen deine Schwäche kennen und dich absichtlich provozieren, eskaliere nicht. Ruf sofort einen cleanen Freund an, der dich kennt. Lass den Dampf bei ihm ab, um wieder runterzufahren.
- Auf Humor setzen: In Situationen mit Menschen, die dich kennen, kann ironischer Humor ein mächtiges Ventil sein, um die Spannung zu brechen und die Kontrolle zurückzugewinnen.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Ist Wut nicht manchmal berechtigt und wichtig?
✅ Absolut. Gesunde Wut ist ein wichtiges Signal, das uns zeigt, dass eine Grenze überschritten wurde. Sie gibt uns die Energie, für uns einzustehen. Der Unterschied liegt in der Reaktion: Gesunde Wut führt zu einer klaren, konstruktiven Handlung (z.B. „Stopp, diese Bemerkung hat mich verletzt.“). Toxische Wut führt zu destruktiver, unkontrollierter Aggression, die alles zerstört.
❤️ Wie gehe ich mit Wut um, ohne zum „Weichei“ zu werden?
✅ Du wirst feststellen, dass emotionale Intelligenz die wahre Stärke ist. Ein Mann, der ruhig sagen kann: „Was du sagst, macht mich traurig und wütend zugleich, lass uns darüber reden“, hat mehr Kontrolle und Stärke als jeder, der brüllend um sich schlägt. Echte Stärke ist emotionale Souveränität, nicht Aggression.
🧠 Mein Partner in Recovery ist ständig wütend. Was kann ich tun?
✅ Das Wichtigste: Du bist nicht sein emotionaler Mülleimer. Setze klare Grenzen. Du kannst sagen: „Ich sehe, dass du wütend bist, aber ich erlaube nicht, dass du diese Wut an mir auslässt. Wir können reden, wenn du bereit bist, ruhig darüber zu sprechen, was dich wirklich verletzt.“ Ermutige ihn, sich professionelle Hilfe zu suchen, um die Ursachen seiner Wut zu ergründen.
🎬 NeelixberliN Fazit

Ich habe ewig gebraucht, um zu kapieren, dass meine Wut eine Lügnerin (Frauen halt 😉) ist. Sie hat mir erzählt, ich sei stark, dabei hatte ich panische Angst. Sie hat mir eingeredet, ich sei im Recht, dabei war ich zu feige, meine eigene Scham zu fühlen. Jedes Mal, wenn ich heute Wut aufsteigen spüre, stelle ich mir nicht mehr die Frage: „Wer ist schuld?“, sondern: „Okay, was tut hier gerade wirklich weh? Und wie kann ich diese Energie positiv nutzen?“.
Diese eine Frage hat alles verändert. Sie hat meine Wut von einem unkontrollierbaren Monster in einen Wegweiser verwandelt. Gleichzeitig muss ich mir immer wieder vorhalten: Für diese Person lohnt es sich nicht, rückfällig zu werden. Ein Rückfall würde ihr nur noch mehr Macht über mich geben.
Dein Ziel in der Recovery ist nicht, deine Wut zu besiegen. Dein Ziel ist, ihr zuzuhören, bis sie dir verrät, wer sie beschützt. Denn erst wenn du diesen verängstigten, traurigen oder beschämten Teil von dir in den Arm nimmst, wird die Wut, ihr Bodyguard, endlich arbeitslos. Und das, mein Freund, ist wahre Freiheit.
⭐ NeelixberliN Empfehlung: Experte für Männer in der Recovery
Es gibt wenige Menschen, die sich so tief und ehrlich mit dem Thema Männer, Emotionen und Sucht auseinandersetzen. Einer von ihnen, den ich sehr schätze, ist:
Ashley Clive Anthony Baker
Sucht Experte für Männer
Jemand, den ich nicht nur liebe, weil er eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Figur von NeelixberliN hat oder weil seine Initialen A.C.A.B. sind (was bei mir spezielle Assoziationen weckt 😉), sondern weil seine Arbeit verdammt gut und wichtig ist.
Wenn dich die Themen aus dieser Serie bewegen, schau dir unbedingt seinen Instagram-Kanal an und kontaktiere ihn für mehr Informationen zum Thema Männer, Sucht und Emotionen.