Ein Artikel aus der „NACH DEM RAUSCH“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel beschreibt detailliert triggernde Kommunikationsmuster in der Recovery. Er kann Suchtdruck auslösen, wenn du nicht stabil bist.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery habe ich unzählige Meetings besucht. Die besten waren die, in denen es um die brutale Ehrlichkeit des heutigen Tages ging. Um die Kämpfe und Siege der letzten 24 Stunden.
Die schlimmsten, gefährlichsten Meetings waren immer die, in denen die „alten Hasen“ anfingen, ihre „War Stories“ auszupacken. „Weißt du noch, damals auf Koks in Hamburg…“, „Die Partys in den 90ern, alter, das war noch echt…“. Ein Lachen, ein Schulterklopfen, ein nostalgisches Glänzen in den Augen. Und ich saß da und spürte, wie das Gift in meinem Kopf wieder zu tropfen begann. Der trockene Mund. Der unruhige Fuß. Das alte Verlangen.
Das ist „Heißreden“. Es ist die romantische Verklärung der eigenen Hölle. Und es ist pures Gift für deine Nüchternheit. Es ist der gefährlichste Trigger von allen, weil er nicht wie ein Feind daherkommt, sondern wie ein alter, guter Freund, der dich an die „guten Zeiten“ erinnern will.
„Heißreden“ ist die Pornografie der Sucht. Es zeigt dir nur den geilen, aufregenden Teil und blendet die ganze schmutzige, demütigende und zerstörerische Realität danach aus. Es ist der gefährlichste Trigger von allen, weil er sich nicht wie eine Gefahr, sondern wie Nostalgie anfühlt.
🎯 Die harten Fakten: Die Wissenschaft der verklärten Erinnerung
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Wissenschaft der verklärten Erinnerung
Heißreden ist nicht nur Gerede. Es ist ein anerkannter psychologischer Mechanismus, der Rückfälle provoziert:
- Euphoric Recall (Verklärte Erinnerung): Dies ist eine Form des kognitiven Bias „Rosy Retrospection“. Das Gehirn neigt dazu, vergangene Ereignisse positiver zu bewerten als zum Zeitpunkt des Geschehens. Bei Süchtigen führt dies dazu, dass die euphorischen Momente des Konsums überbetont und die katastrophalen Konsequenzen ausgeblendet werden.
- Cue Reactivity (Trigger-Reaktivität): Die Suchtforschung zeigt, dass nicht nur das Sehen von Drogen, sondern auch das Hören von Geschichten darüber (verbale Cues) im Gehirn die gleichen Belohnungszentren (wie den Nucleus accumbens) aktiviert und messbaren Suchtdruck auslöst. Dein Gehirn geht quasi schon „auf Droge“, nur durchs Zuhören.
- Warnung in der Selbsthilfe: In vielen 12-Schritte-Gruppen gibt es die ungeschriebene Regel, „Drunk-a-logs“ oder „Drug-a-logs“ (detaillierte, glorifizierende Rauschgeschichten) zu vermeiden. Stattdessen liegt der Fokus auf der Erfahrung, Kraft und Hoffnung der Genesung.
- Gefahr der Co-Signalisierung: Wenn in einer Gruppe über Konsum gesprochen wird, kann dies unbewusst als soziale Bestätigung oder „Erlaubnis“ wirken, die alten Zeiten als akzeptabel zu betrachten, was die Hemmschwelle für einen Rückfall senkt.
🔬 Wissenschaft: Wie dein Gehirn dich mit Nostalgie vergiftet
Heißreden ist so gefährlich, weil es direkt auf die Bug-Reports deines süchtigen Betriebssystems zielt:
- Das Suchtgedächtnis als Lügner: Dein Suchtgedächtnis ist kein neutraler Archivar. Es ist ein Propaganda-Minister. Es speichert die Erinnerung an den Dopamin-Kick des Rausches extrem lebhaft ab, während es die Erinnerung an den Serotonin-Crash des Katers, die Scham und die Verzweiflung aktiv unterdrückt. Heißreden füttert genau diesen lügenden Teil deines Gehirns.
- Spiegelneuronen (Die Ansteckungsgefahr): Wenn du jemandem zuhörst, der leidenschaftlich von einer Erfahrung erzählt, feuern in deinem Gehirn teilweise dieselben Neuronen (Spiegelneuronen), als würdest du es selbst erleben. Du „fühlst“ den Rausch des anderen mit – und damit auch das Craving.
- Rückkehr in die Sucht-Identität: Wer ständig über seine „wilden Zeiten“ spricht, bleibt mental in seiner alten Identität als „krasser Junkie“ oder „Party-König“ stecken. Das blockiert die Entwicklung einer neuen, stabilen und nüchternen Identität im Hier und Jetzt.
🎭 Die Gesichter des Heißredens: Erkennst du die Archetypen?

Heißreden ist selten eine bewusste Sabotage. Es sind oft unbewusste Muster, die aus verschiedenen Bedürfnissen entstehen. Erkennst du diese Typen in deiner Gruppe oder sogar in dir selbst?
⚠️ Die Archetypen des Heißredens: Erkennst du sie (oder dich)?
Heißreden hat viele Gesichter. Oft sind es unbewusste Rollen, die Menschen in Gruppen einnehmen:
- Der „Held der Gosse“: Er glorifiziert die kriminellen und extremen Aspekte seiner Sucht. Seine Geschichten handeln von waghalsigen Deals, Verfolgungsjagden und knappem Überleben. Er sucht Anerkennung für seine „Härte“.
- Der „Connaisseur“: Er spricht über Drogen wie ein Weinkenner über einen Grand Cru. Er diskutiert die Reinheit von Substanzen, die „besten“ Konsumtechniken und die feinen Unterschiede im Rausch. Er inszeniert sich als Experte.
- Der „Lustige Anekdoten-Erzähler“: Er erzählt nur die „witzigen“ Geschichten, die im Rausch passiert sind – die Blackouts, die peinlichen Aussetzer. Gelächter ist hier das Ziel, die Tragik dahinter wird komplett ausgeblendet.
- Der „Nostalgiker“: Er trauert den „guten alten Zeiten“ der Gemeinschaft und des Zusammenhalts in der Drogenszene nach und vergisst dabei, dass diese „Freundschaften“ meist auf purem Egoismus basierten.
🛡️ Safer Use: Dein Bullshit-Detektor & Notausgangs-Plan

Du bist dem Heißreden nicht hilflos ausgeliefert. Du hast das Recht und die Pflicht, deine Recovery zu schützen. Das erfordert Mut und klare Grenzen.
🛡️ Safer Use: Dein Schutzschild gegen die verbale Droge
Du hast das Recht und die Pflicht, deine Nüchternheit zu schützen. Das erfordert Mut und klare Grenzen.
Wenn du dich selbst beim Heißreden erwischst:
- STOPP: Sprich das Wort innerlich oder laut aus. Mache dir bewusst: „Ich füttere gerade meine Krankheit.“
- Realitäts-Check: Zwinge dich, den Film zu Ende zu erzählen. Was passierte NACH dem Kick? Der Kater, die Scham, der Streit, die Schulden?
Wenn andere heißreden:
- In Gruppen (Meeting etc.): Setze eine klare, aber respektvolle Grenze in der Ich-Form. „Stopp, ich muss kurz unterbrechen. Ich merke, dass mich die Art, wie wir gerade über die Vergangenheit reden, triggert. Können wir den Fokus wieder auf die Lösung und den heutigen Tag legen?“
- Im Privaten (Freunde etc.): Sei direkt. „Sorry, Leute. Ich kann über dieses Thema nicht reden. Es feuert meinen Suchtdruck an. Lasst uns bitte das Thema wechseln.“
- Der Notausgang: Wenn die anderen nicht aufhören: Steh auf und geh. Ohne Diskussion. Dein Weggang ist die lauteste und klarste Grenze von allen. Das ist kein Versagen, das ist radikaler Selbstschutz.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Wo ist die Grenze zwischen ehrlicher Aufarbeitung und gefährlichem Heißreden?
✅ Die Grenze liegt in der Absicht und der Ausgewogenheit. Bei einer ehrlichen Aufarbeitung geht es darum, zu verstehen und zu lernen. Du sprichst über den Schmerz, die Scham und die negativen Folgen, um dich davon zu distanzieren. Beim Heißreden werden die negativen Konsequenzen weggelassen und der Konsum wird glorifiziert, um den Rausch gedanklich wiederzuerleben oder vor anderen „cool“ dazustehen.
❤️ Was mache ich in einer Selbsthilfegruppe, wenn jemand exzessiv heißredet?
✅ Du hast immer das Recht, freundlich und in der Ich-Form zu sagen: „Stopp, ich merke, dass mich das Thema gerade triggert und mir nicht guttut. Können wir vielleicht den Fokus wieder darauf legen, wie wir heute clean bleiben?“ Das ist kein Angriff, sondern schützt dich und die Integrität der Gruppe. In gut moderierten Gruppen wird das von anderen unterstützt.
🧠 Mein Partner redet ständig von den „guten alten Partyzeiten“. Wie kann ich ihm das erklären?
✅ Nutze eine Ich-Botschaft in einem ruhigen Moment. Sage ihm zum Beispiel: „Ich weiß, dass du gerne an diese Zeit zurückdenkst. Aber wenn du nur die lustigen Seiten erzählst, löst das in mir Angst aus und ich mache mir Sorgen, dass du die negativen Seiten vergisst. Für meine Recovery hilft es mir mehr, wenn wir über unsere Zukunft sprechen.“
💪 Aber ist das nicht Zensur? Dürfen wir in der Recovery nicht mehr ehrlich über unsere Vergangenheit reden?
✅ Doch, absolut. Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu zensieren, sondern um die Art und Weise, WIE wir darüber reden. Ehrliche Aufarbeitung fokussiert auf die Gefühle, die Lektionen und die Konsequenzen. Heißreden fokussiert auf die Glorifizierung des Rausches. Das eine führt zur Heilung, das andere zum Rückfall.
😔 Ich merke, dass ich selbst oft heißrede. Bin ich kurz vor dem Rückfall?
✅ Nicht zwangsläufig, aber es ist ein riesiges Warnsignal. Es zeigt, dass ein Teil von dir die alte Zeit noch romantisiert. Es ist ein Zeichen, dass du deine Recovery vertiefen musst. Sprich genau DAS in deiner Therapie oder mit deinem Sponsor an: „Ich merke, dass ich oft heißrede. Ich glaube, ich habe die Vergangenheit noch nicht wirklich losgelassen.“ Diese Ehrlichkeit ist der erste Schritt zur Korrektur.
📚 Lesetipp zur Vertiefung
📖 Lesetipp zur Vertiefung
Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit von Bowen, Chawla & Marlatt
Dieses Buch ist ein Meilenstein in der modernen Suchttherapie und die perfekte praktische Ergänzung zu diesem Artikel. Es ist ein Arbeitsbuch, das dir die Techniken der Achtsamkeit (MBRP-Programm) beibringt, um Trigger wie das ‚Heißreden‘ frühzeitig zu erkennen und die automatische Kette von Gedanke zu Suchtdruck zu durchbrechen. Anstatt gegen die Erinnerung anzukämpfen, lernst du, sie zu beobachten, ohne zu handeln.
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🎬 NeelixberliN Fazit

Deine Vergangenheit ist ein Tatort, kein Freizeitpark.
Geh hin, um zu ermitteln. Um zu lernen, welche Fehler du gemacht hast. Um zu verstehen, welche Muster dich fast umgebracht hätten. Analysiere die Beweise, ziehe deine Schlüsse und dann verlasse den verdammten Tatort wieder.
Hör auf, dort Achterbahn zu fahren. Hör auf, die alten Geister zu Partys einzuladen. Sie sind Verführer. Sie locken dich mit der süßen Lüge der Nostalgie, nur um dich wieder in ihr Reich zu ziehen und dir die Seele auszusaugen.
Deine Energie, deine Gedanken, deine Worte gehören nicht in die Asche deiner Vergangenheit. Sie gehören in das fruchtbare Land deiner Gegenwart und in den unendlichen Horizont deiner Zukunft. Schick die Geister zur Hölle. Dein Platz ist hier. Heute.
📖 Quellen & Referenzen
- Mitchell, T., & Thompson, S. (1994). „A selective review of the literature on Rosy Retrospection.“ Journal of Personality and Social Psychology. (Grundlagenforschung zum kognitiven Bias).
- NIDA (National Institute on Drug Abuse): Forschung zur „Cue Reactivity“, der Reaktion des Gehirns auf suchtbezogene Reize (Cues).
- Iacoboni, M. (2008). Mirroring People: The New Science of How We Connect with Others. (Populärwissenschaftliche Erklärung der Spiegelneuronen).
- Marlatt, G. A., & Gordon, J. R. (Eds.). (1985). Relapse prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors. (Das Standardwerk zur Rückfallprävention).
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