Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Depression, Sucht als Selbstmedikation und Suizidgedanken.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery will ich mit einer der größten Lügen aufräumen, die ich mir selbst und anderen lange erzählt habe: Dass eine tiefsitzende Depression mich in die Sucht getrieben hat. Das ist eine valide Geschichte für viele. Aber bei mir war es genau umgedreht: Die Drogen haben die Depression ausgelöst.
Jahrelang dachte ich, ich sei von Natur aus depressiv. Dass die graue Decke über meinem Leben ein Teil von mir ist. Aber nach dem finalen, harten Entzug – vor allem nach 13 Jahren auf Polamidon (Methadon) – und mit der Entwicklung eines vernünftigen, neuen Mindsets passierte das Unvorstellbare: Die Depression war weg.
Sie war nicht die Ursache gewesen. Sie war die Konsequenz.
Dieser Artikel ist für alle, die in diesem doppelten Gefängnis aus Depression und Sucht gefangen sind. Wir werden beide Wege in diese Hölle beleuchten: den Weg, auf dem die Depression zur Sucht führt, und meinen Weg, auf dem die Sucht die Depression erschaffen hat. Denn die Antwort auf diese Henne-Ei-Frage entscheidet alles für deine Heilung.
Egal ob deine Depression die Henne oder das Ei war – am Ende hast du zwei Krankheiten, die sich gegenseitig füttern. Der Ausweg beginnt mit der radikalen Frage: Behandelst du eine Depression mit Drogen, oder behandelst du die Folgen deiner Drogen, die sich wie eine Depression anfühlen?
🎯 Die harten Fakten: Die Zwillings-Krankheiten
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Zwillings-Krankheiten
Die Kombination von Depression und Sucht ist eine der häufigsten Doppeldiagnosen in der Psychiatrie:
- Massive Überlappung: Laut dem National Institute on Drug Abuse (NIDA) leidet etwa ein Drittel aller Menschen mit einer schweren Depression auch an einer Substanzgebrauchsstörung.
- Zwei Richtungen: Die Verbindung funktioniert in beide Richtungen. Eine Depression erhöht das Risiko für Sucht (Selbstmedikations-Hypothese). Umgekehrt ist eine „Substanzinduzierte Depressive Störung“ eine offizielle Diagnose im DSM-5 – die Drogen verursachen hier die Depression.
- Geteilte Neurobiologie: Depression und Sucht teilen sich teilweise dieselben neurobiologischen Pfade. Beide sind mit einer Dysregulation der Botenstoffe Serotonin (Stimmung) und Dopamin (Motivation, Belohnung) im Gehirn verbunden.
- Integrierte Behandlung ist überlegen: Studien zeigen eindeutig, dass eine integrierte Behandlung, die beide Störungen gleichzeitig adressiert, einer sequenziellen Behandlung (erst die Sucht, dann die Depression) deutlich überlegen ist.
🔬 Wissenschaft: Was war zuerst da? Die zwei Teufelskreise
Es gibt zwei Hauptwege in die Doppeldiagnose Depression & Sucht:
Weg 1: Die Depression als Ursache (Selbstmedikations-Hypothese)
- Du hast eine primäre Depression, dein Gehirn ist im „Grau-Modus“ (z.B. durch Serotoninmangel).
- Du entdeckst, dass eine Droge (z.B. Alkohol oder Koks) diesen Zustand kurzfristig verbessert (Dopamin-Kick).
- Du beginnst, die Droge wie ein Medikament zu benutzen. Das Problem: Der Absturz danach verschlimmert die ursprüngliche Depression.
Weg 2: Die Droge als Ursache (Substanzinduzierte Depression)
- Du beginnst aus anderen Gründen mit dem Konsum (Neugier, Gruppenzwang).
- Der chronische Konsum, insbesondere von dämpfenden Substanzen (Alkohol, Opiate wie Polamidon, Benzos), greift massiv in deine Hirnchemie ein. Er legt die natürliche Produktion von „Glückshormonen“ lahm.
- Dein Gehirn „vergisst“, wie man ohne die Droge normal funktioniert. Es entsteht eine handfeste, klinische Depression, die eine direkte Folge des Konsums ist. So wie in meiner Geschichte.
🎭 Dein Gift, Deine „Medizin“: Die Logik der Selbstmedikation

Egal, was zuerst da war, die Dynamik ist oft dieselbe: Dein Gehirn versucht verzweifelt, seine eigene Chemie zu reparieren.
⚠️ Dein Gift als „Medizin“: Die Logik deiner Selbstmedikation
Die Wahl deiner Droge ist selten ein Zufall. Sie ist oft ein unbewusster Versuch, ein spezifisches Depressions-Symptom zu bekämpfen:
- Die „Betäuber“ (Downer): Wenn deine Depression von innerer Unruhe, Ängsten und quälenden Gedankenschleifen geprägt ist, greifst du eher zu Substanzen wie Alkohol, Cannabis oder Benzodiazepinen.
- Die „Antreiber“ (Upper): Wenn deine Depression dich lähmt, antriebslos und leer macht (Anhedonie), greifst du eher zu Kokain, Speed oder anderen Stimulanzien.
- Die „Vergesser“ (Dissoziativa/Halluzinogene): Wenn der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit unerträglich werden, können Drogen wie Ketamin genutzt werden, um sich komplett vom eigenen Fühlen und der Realität abzuspalten.
🛡️ Safer Use: Dein Ausbruchsplan aus dem doppelten Gefängnis

Du kämpfst einen Krieg an zwei Fronten. Du brauchst einen Schlachtplan, der beide Feinde im Visier hat.
🛡️ Safer Use: Dein Schlachtplan für den Zwei-Fronten-Krieg
Du musst beide Krankheiten gleichzeitig bekämpfen. Das erfordert einen integrierten Plan.
- Radikale Akzeptanz der Doppeldiagnose: Akzeptiere, dass du zwei Krankheiten hast, die sich gegenseitig füttern. Das ist keine doppelte Niederlage, sondern die erste ehrliche Diagnose.
- Kläre die Ursache: Arbeite mit deinem Arzt/Therapeuten daran herauszufinden, ob deine Depression primär oder substanzinduziert ist. Das ist entscheidend für die Behandlungsstrategie.
- Suche einen Doppeldiagnose-Spezialisten: Du brauchst einen Profi, der Erfahrung mit BEIDEN Störungen hat. Frage explizit danach: „Behandeln Sie auch komorbide Depression und Sucht?“
- Richtig Medizieren, nicht selbst-medikamentieren: Das ist entscheidend. Ein ärztlich verschriebenes Antidepressivum (z.B. ein SSRI) ist das genaue Gegenteil von Selbstmedikation. Es zielt darauf ab, dein Gehirn langfristig zu STABILISIEREN, anstatt es mit einem Rausch weiter zu zerstören.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Fühlen sich nicht alle Menschen mal depressiv? Woher weiß ich, ob es ernst ist?
✅ Schlechte Tage sind normal. Eine klinische Depression ist ein anhaltender Zustand (meist über 2 Wochen) von tiefer Niedergeschlagenheit, komplettem Interessenverlust und starker Antriebslosigkeit, der den Alltag massiv beeinträchtigt. Wenn du dich so fühlst, ist es wichtig, mit einem Arzt zu sprechen.
❤️ Aber Alkohol/Kiffen hilft mir doch, meine Sorgen zu vergessen. Ist das nicht gut?
✅ Es fühlt sich kurz so an, weil die Substanzen deine Gefühle betäuben. Aber sie lösen nicht die Ursache. Im Gegenteil: Der „seelische Kater“ danach macht die depressiven Gefühle oft noch stärker und auswegloser als zuvor. Es ist eine kurzfristige Flucht, die das Problem langfristig vergrößert.
🧠 Ich nehme Antidepressiva. Bin ich dann nicht auch süchtig nach Pillen?
✅ Nein. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Moderne Antidepressiva (wie SSRIs) machen nicht im klassischen Sinne süchtig. Sie erzeugen keinen Rausch und keine Toleranzentwicklung. Es ist eine ärztlich kontrollierte Behandlung, keine Selbstmedikation zur Betäubung.
💪 Was ist, wenn die Depression erst durch die Drogen kam, so wie bei dir?
✅ Das ist eine „substanzinduzierte Depression“ und eine offizielle Diagnose. Die gute Nachricht daran ist: Wenn die Substanz die Ursache ist, ist die Abstinenz die wichtigste Medizin. Oft verbessern sich die depressiven Symptome nach einem qualifizierten Entzug und einer längeren Clean-Zeit von ganz allein, weil das Gehirn die Chance bekommt, seine Chemie wieder selbst zu regulieren. Ein gutes Mindset unterstützt diesen Prozess massiv.
😔 Ich habe Angst, mit jemandem darüber zu reden. Was soll ich tun?
✅ Das ist total verständlich. Wenn das Gespräch mit Nahestehenden zu schwer ist, sind anonyme Anlaufstellen wie die Telefonseelsorge (0800 / 111 0 111) ein perfekter erster Schritt. Sie können dir einfach nur zuhören und mit dir gemeinsam überlegen, was der nächste, kleine Schritt sein könnte.
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🎬 NeelixberliN Fazit

Egal, ob die Depression die Henne oder das Ei war: Am Ende hast du zwei Krankheiten, die sich gegenseitig im Würgegriff halten.
Für mich war die Erkenntnis, dass die Drogen meine Depression verursacht hatten, eine unglaubliche Befreiung. Es bedeutete, dass ich nicht „von Natur aus kaputt“ oder für immer zu einem Leben in Grau verdammt war. Es bedeutete, dass ich durch radikale Abstinenz und die harte Arbeit an meinem Mindset die Chance hatte, mein Gehirn wieder auf die Werkseinstellungen zurückzusetzen.
Und ich sage dir: Das Gefühl, nach Jahren des künstlichen Nebels und der chemischen Betäubung zum ersten Mal wieder echte, klare Freude zu spüren – ohne Grund, einfach nur, weil die Sonne scheint –, ist der größte und realste Lohn der Recovery. Es ist der Beweis, dass Heilung möglich ist. Finde heraus, was bei dir Henne und was Ei ist. Und dann fange an, den Teufelskreis zu durchbrechen.
📖 Quellen & Referenzen
- NIDA (National Institute on Drug Abuse): „Comorbidity: Substance Use Disorders and Other Mental Illnesses.“
- American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). (Definiert die Kriterien für „Substance/Medication-Induced Depressive Disorder“).
- Khantzian, E. J. (1985). „The self-medication hypothesis of addictive disorders.“ The American journal of psychiatry.
- Burns, David D. (1980). Feeling Good: The New Mood Therapy. (Deutscher Titel: „Gefühle verstehen, Probleme bewältigen“).
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