Nicht wirklich hier: Wenn Dissoziation deine Sucht antreibt

Nicht wirklich hier: Wenn Dissoziation deine Sucht antreibt

Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN

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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Dissoziation, Depersonalisation/Derealisation, Kindheitstrauma und Sucht als Selbstmedikation.


Nach 28 Jahren Sucht & Recovery kenne ich dieses Gefühl. Du sitzt in einem Raum voller Menschen, aber du bist durch eine unsichtbare Glaswand von ihnen getrennt. Du siehst, wie sich ihre Münder bewegen, aber der Ton ist aus. Du stehst neben dir und schaust deinem eigenen Leben zu, als wäre es ein scheißlangweiliger Film, in dem du nur eine Nebenrolle spielst. Dein Körper ist anwesend, aber du bist nicht wirklich hier.

Dieser Zustand hat einen Namen: Dissoziation. Es ist der ultimative Notfall-Schalter des Gehirns, der umgelegt wird, wenn die Realität zu schmerzhaft ist, um sie auszuhalten. Es ist eine brillante Überlebensstrategie, die dir als Kind vielleicht das Leben gerettet hat. Aber im Erwachsenenleben wird sie zu einem quälenden Dauerzustand der Entfremdung.

Und für viele von uns war es der Grund, warum wir zur Droge gegriffen haben. Entweder, um in diesem Nebel endgültig zu verschwinden oder um ihn mit einem künstlichen Blitz zu durchbrechen, nur um für einen kurzen Moment wieder etwas zu fühlen.

Dissoziation ist die Atombombe der seelischen Schutzmechanismen. Deine Sucht ist der verzweifelte Versuch, entweder den Einschlag zu verhindern oder im radioaktiven Fallout endlich nichts mehr fühlen zu müssen. Heilung bedeutet, zu lernen, den Schutzbunker zu verlassen und wieder im echten Leben anzukommen.


🎯 Die harten Fakten: Die Trauma-Sucht-Dissoziations-Triade

📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Trauma-Dissoziations-Sucht-Triade

Dissoziation ist kein seltenes Phänomen, sondern eine häufige Folge von Trauma und ein massiver Risikofaktor für Sucht:

  • Starker Zusammenhang mit Kindheitstrauma: Die ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) zeigt eine direkte Korrelation zwischen der Anzahl traumatischer Kindheitserfahrungen und dem Auftreten von dissoziativen Symptomen im Erwachsenenalter.
  • Hohe Komorbidität mit Sucht: Studien (u.a. im „American Journal of Psychiatry“) zeigen, dass Menschen mit dissoziativen Störungen eine extrem hohe Komorbiditätsrate mit Substanzgebrauchsstörungen aufweisen. Die Sucht ist oft eine direkte Folge der Dissoziation.
  • Offiziell anerkannte Diagnose: Störungen wie die „Depersonalisations-/Derealisationsstörung“ sind im DSM-5, dem diagnostischen Manual der Psychiatrie, klar definierte Krankheitsbilder, die auf Trauma zurückzuführen sind.
  • Grounding wirkt: Techniken zur Erdung („Grounding“), die in der Verhaltenstherapie (DBT, KVT) eingesetzt werden, sind eine evidenzbasierte Erste-Hilfe-Methode, um dissoziative Zustände zu unterbrechen.

🔬 Wissenschaft: Was bei einer Dissoziation im Kopf passiert

Dissoziation ist ein neurobiologischer Schutzmechanismus, der bei überwältigendem Trauma aktiviert wird. Stell es dir wie eine durchgebrannte Sicherung vor.

  • Die Notbremse des Gehirns: In einer traumatischen Situation, aus der es kein Entkommen gibt (z.B. bei Missbrauch in der Kindheit), schüttet das Gehirn körpereigene Opioide aus, um den emotionalen und körperlichen Schmerz zu dämpfen. Es „schaltet ab“, um das Überleben zu sichern.
  • Vom Notfall zum Dauerzustand: Das Gehirn kann lernen, diese „Notbremse“ als automatische Reaktion auf JEDEN Stress zu ziehen. Ein Streit, eine laute Umgebung, ein unangenehmes Gefühl – und das System schaltet in den Überlebensmodus und dissoziiert.
  • Depersonalisation: Das Gefühl der Entfremdung vom eigenen Selbst. „Ich beobachte mich, wie ich rede“, „Mein Körper fühlt sich nicht wie meiner an“, „Meine Emotionen sind nicht meine“.
  • Derealisation: Das Gefühl der Entfremdung von der Umwelt. „Die Welt sieht aus wie ein Film“, „Alles ist neblig oder hinter einer Glasscheibe“, „Die Zeit vergeht seltsam“.

🎭 Dein Gift, deine „Medizin“: Flucht VOR der Flucht

Eine durchsichtige, geisterhafte Person in einer Menschenmenge, als Symbol für das Gefühl der Entfremdung und Dissoziation.
Das Gefühl, da zu sein, aber nicht wirklich teilzunehmen – Dissoziation ist wie ein Geist im eigenen Leben zu sein.

Wenn das Abgespalten-Sein zum Dauerzustand wird, ist das unerträglich. Hier entsteht die fatale Verbindung zur Sucht, oft auf zwei völlig gegensätzliche Arten.

⚠️ Die paradoxe Logik der Selbstmedikation bei Dissoziation

Menschen mit dissoziativen Störungen greifen oft zu Drogen, um ihren unerträglichen Zustand zu „regulieren“ – und zwar auf zwei gegensätzliche Arten:

  • Drogen, um die Dissoziation zu BEENDEN (Die „Aufwecker“): Wenn das Gefühl der Leere, Taubheit und Unwirklichkeit unerträglich wird, werden oft Stimulanzien wie Kokain oder Amphetamine konsumiert. Der intensive Kick durchbricht den Nebel, lässt dich wieder „lebendig“ und „echt“ fühlen – für einen kurzen, aber ersehnten Moment.
  • Drogen, um die Dissoziation zu VERSTÄRKEN (Die „Betäuber“): Wenn stattdessen Flashbacks und schmerzhafte Erinnerungen durch die Dissoziations-Mauer brechen, werden Substanzen genutzt, um die Flucht nach innen zu verstärken. Dämpfende Drogen wie Alkohol, Opiate oder Benzodiazepine verstärken die Betäubung. Dissoziative Drogen wie Ketamin oder DXM werden gezielt eingesetzt, um das „Abschalten“ auf die Spitze zu treiben.

In beiden Fällen wird die Droge zu einem verzweifelten Versuch, die Kontrolle über den eigenen Bewusstseinszustand zurückzugewinnen – ein Versuch, der den Teufelskreis aus Trauma und Sucht nur noch fester zurrt.


🛡️ Safer Use: Der Weg zurück in deinen Körper

Füße, aus denen leuchtende Wurzeln in die Erde wachsen, als Symbol für Erdung (Grounding) und das Wiederankommen im eigenen Körper.
Heilung von Dissoziation beginnt bei den Füßen. Lerne, dich wieder im Hier und Jetzt zu erden und im eigenen Körper sicher zu fühlen.

Du kannst die Sucht nicht besiegen, wenn du nicht lernst, die Dissoziation zu managen. Du musst lernen, die Flucht nach innen zu beenden und wieder sicher in deinem eigenen Körper „anzukommen“.

🛡️ Safer Use: Wie du lernst, wieder „anzukommen“

Heilung von Dissoziation ist die Kunst, dich im Hier und Jetzt sicher zu fühlen. Das ist der Fokus jeder guten Therapie.

  1. Lerne zu „grounden“ (dich zu erden): Das ist deine wichtigste Erste-Hilfe-Technik. Wenn du merkst, dass du „wegdriftest“, bringe dich mit deinen Sinnen zurück in die Realität. Die 5-4-3-2-1-Methode ist perfekt dafür:
    • Nenne 5 Dinge, die du siehst.
    • Nenne 4 Dinge, die du spürst (z.B. deine Füße auf dem Boden).
    • Nenne 3 Dinge, die du hörst.
    • Nenne 2 Dinge, die du riechst.
    • Nenne 1 Sache, die du schmeckst.
  2. Suche explizit nach Trauma-Therapie: Du brauchst einen Therapeuten, der die Verbindung von Sucht, Trauma und Dissoziation versteht. Reine Suchttherapie wird nicht ausreichen. Methoden wie EMDR, Somatic Experiencing oder Schema-Therapie sind hier oft wirksamer als reine Gesprächstherapie.
  3. Arbeite mit dem „Toleranzfenster“: Lerne deine persönlichen Anzeichen für Über- und Untererregung kennen. Dein Ziel ist es, mit Skills (siehe unseren Skills-Artikel) in deinem „Window of Tolerance“ zu bleiben, dem Zustand, in dem du präsent und handlungsfähig bist, ohne zu dissoziieren.

🤔 Ausführliche FAQ

🤔 Ist „sich wegträumen“ oder ein Blackout beim Trinken schon eine Dissoziation?

✅ Ein leichtes Wegträumen ist eine alltägliche, harmlose Form der Dissoziation. Ein alkoholbedingter „Filmriss“ (Blackout) ist eine toxische Wirkung auf das Gehirn. Eine krankhafte Dissoziation ist jedoch ein tiefergehender Zustand der Entfremdung von sich selbst oder der Welt, der auch im nüchternen Zustand als Reaktion auf Stress auftritt und dein Leben stark beeinträchtigt.

❤️ Welche Drogen sind bei einer Neigung zu Dissoziation besonders gefährlich?

✅ Alle, aber besonders dissoziative Drogen wie Ketamin, PCP oder DXM, da sie die Symptome direkt nachahmen und verstärken. Auch Halluzinogene wie LSD oder Cannabis können bei Menschen mit dissoziativen Störungen die Grenzen zur Realität weiter auflösen und massive Angst oder psychotische Zustände auslösen.

🧠 Ist Dissoziation gefährlich?

✅ Der Zustand selbst ist ein Schutzmechanismus, aber er ist extrem gefährlich. Wenn du dissoziiert bist, bist du nicht voll handlungsfähig. Du nimmst Gefahren nicht wahr, was das Risiko für Unfälle oder dafür, Opfer einer Straftat zu werden, massiv erhöht. Die größte Gefahr ist jedoch, dass es die Verarbeitung des Traumas verhindert und dich im Kreislauf der Sucht gefangen hält.

💪 Ich dissoziiere ständig, habe aber kein „großes“ Trauma erlebt. Was ist los?

✅ Trauma muss nicht immer ein einzelnes, großes Ereignis sein. Oft ist es „komplexes“ oder „Entwicklungstrauma“ – eine langanhaltende Kindheit voller emotionaler Vernachlässigung, ständiger Kritik oder einer unsicheren Bindung. Diese „kleinen“, aber chronischen Verletzungen können das Nervensystem genauso nachhaltig schädigen und zu dissoziativen Mustern führen.

😔 Wird dieses Gefühl jemals ganz weggehen?

✅ Das Ziel der Therapie ist nicht unbedingt, dass du nie wieder dissoziierst. Das Ziel ist, dass die Episoden seltener, kürzer und weniger intensiv werden. Vor allem aber lernst du, die Anzeichen frühzeitig zu erkennen und mit Grounding-Techniken aktiv gegenzusteuern, sodass du nicht mehr die Kontrolle verlierst. Du lernst, den Notausgang zu sehen, aber bewusst zu entscheiden, die Tür nicht zu nehmen.

📚 Lesetipp zur Vertiefung

📖 Lesetipp zur Vertiefung

Das Trauma in dir (Original: „The Body Keeps the Score“) von Bessel van der Kolk

Dies ist das absolute Grundlagenwerk zum modernen Trauma-Verständnis. Van der Kolk erklärt wie kein anderer die neurobiologischen Auswirkungen von Trauma und warum es im Körper „gespeichert“ wird. Er beschreibt detailliert Phänomene wie Dissoziation und stellt moderne, körperorientierte Therapieansätze vor. Ein Muss für jeden, der die Wurzeln seines Leidens verstehen will.

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🎬 NeelixberliN Fazit

Eine Person, die ihr eigenes, zersplittertes Spiegelbild wieder zusammensetzt, als Symbol für die Integration und Heilung von dissoziativen Anteilen.
Dissoziation zersplittert deine Wahrnehmung. Heilung bedeutet, die Scherben deines Ichs nicht wegzuwerfen, sondern sie mit Mitgefühl und Geduld wieder zu einem ganzen Bild zusammenzufügen.

Die meiste Zeit meiner aktiven Sucht war ich nicht wirklich da. Ich war ein Geist, der seine eigene Lebensgeschichte wie von außen beobachtete. Die Drogen haben diesen Zustand mal verstärkt, mal kurz durchbrochen, aber die grundlegende Trennung zwischen mir und der Welt war immer da.

Die Recovery war für mich deshalb kein einfacher Weg der Abstinenz, sondern eine lange, schmerzhafte und oft furchterregende Reise zurück in meinen eigenen Körper. Zu lernen, die Welt wieder ungefiltert zu fühlen – den Schmerz UND die Freude. Zu lernen, im Hier und Jetzt präsent zu sein, ohne sofort wieder „wegzukippen“.

Wenn du dieses Gefühl kennst, dann wisse: Du bist nicht verrückt. Du bist ein Überlebenskünstler. Deine Seele hat getan, was sie tun musste, um dich zu schützen. Aber jetzt ist es an der Zeit, ihr zu zeigen, dass sie den Schutzbunker langsam verlassen darf. Es ist sicher, wieder zu fühlen. Es ist sicher, wieder hier zu sein.


📖 Quellen & Referenzen

  • American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5). (Enthält die offiziellen diagnostischen Kriterien für Dissoziative Störungen).
  • Van der Kolk, Bessel A. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. (Das Grundlagenwerk zum Verständnis von Trauma und seinen körperlichen Auswirkungen, inkl. Dissoziation).
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): S3-Leitlinien zu Posttraumatischen Belastungsstörungen.
  • International Society for the Study of Trauma and Dissociation (ISSTD): Weltweit führende Organisation für Forschung und Behandlung von Trauma und Dissoziation.

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Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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