Distanzlosigkeit & Sucht: Wenn man keine Fremden kennt und sich selbst verliert

Distanzlosigkeit & Sucht: Wenn man keine Fremden kennt und sich selbst verliert


Hey Du,

heute reden wir über ein Thema, das oft im Verborgenen liegt und doch so viele Suchtbiografien prägt: die soziale Distanzstörung, eine Form der Bindungsstörung.

Es geht nicht um die Angst vor Menschen, sondern um das genaue Gegenteil: eine fehlende, gesunde Scheu vor Fremden, die Betroffene extrem verletzlich macht und oft direkt in die Arme der Sucht treibt.

Was ist eine „Distanzstörung“ genau? (Enthemmte Bindungsstörung) 🤝

Diese Störung, klinisch oft als „Bindungsstörung mit sozialer Enthemmung bezeichnet, ist keine Charaktereigenschaft. Sie ist die Folge von schweren Traumata in der frühesten Kindheit.

  • Die Ursache: Babys und Kleinkinder, die keine stabile, verlässliche Bezugsperson hatten. Zum Beispiel durch Vernachlässigung, ständige Wechsel der Betreuer (Heimaufenthalte) oder weil die Eltern selbst nicht in der Lage waren, eine sichere Bindung zu bieten.
  • Das Verhalten: Das Kind lernt nie, wem es vertrauen kann und wem nicht. Es entwickelt keine gesunde „Fremdel-Phase“. Als Jugendliche oder Erwachsene äußert sich das in:
    • Distanzlosem Verhalten: Man geht wahllos auf Fremde zu, erzählt intimste Dinge, ist übermäßig freundlich und anhänglich.
    • Fehlenden Grenzen: Man kann schlecht „Nein“ sagen und lässt die eigenen Grenzen ständig überschreiten.
    • Risikobereitschaft: Man gerät leicht an die „falschen“ Leute, weil man die Gefahr nicht spürt.

Eine stilisierte Grafik einer Person, die wie eine offene Tür ohne Schloss ist. Viele verschiedene, teils bedrohlich wirkende Pfeile (die für fremde Menschen stehen) können ungehindert hinein und hinaus. Symbolisiert die fehlenden Grenzen. "fehlende Grenzen", "Bindungsstörung mit Enthemmung", "Distanzlosigkeit"

Der fatale Weg in die Sucht: Warum Distanzlosigkeit so riskant ist ⛓️

Menschen mit einer enthemmten Bindungsstörung haben ein massiv erhöhtes Suchtrisiko. Warum?

  1. Leichte Beute für die Szene: Mit deiner offenen, grenzenlosen Art bist du das perfekte Opfer für ausbeuterische „Freundschaften“ in der Drogenszene. Du wirst schnell instrumentalisiert, ohne es zu merken.
  2. Die Suche nach Zugehörigkeit: Dein ganzes Leben suchst du nach der stabilen Bindung, die du nie hattest. Die Drogenszene bietet oft eine scheinbar bedingungslose Aufnahme und ein starkes Gruppengefühl – eine Illusion von Familie.
  3. Selbstmedikation der inneren Leere: Hinter der gesprächigen Fassade steckt oft eine tiefe innere Leere und ein Mangel an Selbstwert. Substanzen wie Alkohol, Benzos oder Opiate betäuben dieses Gefühl kurzfristig und erzeugen eine künstliche „Wärme“.
  4. Hohe Impulsivität: Die Störung geht oft mit einer generellen Impulskontrollschwäche einher. Das „Nein“ zu Drogen ist genauso schwer wie das „Nein“ zu einem unangemessenen Kontakt.

Die Sucht wird zum neuen, scheinbar verlässlichen „Partner“, der immer da ist – und dich am Ende komplett zerstört.


Eine Person, die an einem Tisch sitzt. Ihr gegenüber sitzen mehrere zwielichtige, schattenhafte Gestalten, die ihr Verträge oder Substanzen anbieten. Die Person wirkt naiv und ist kurz davor, "Ja" zu sagen. Symbolisiert die Verletzlichkeit gegenüber Ausbeutung. "Ausnutzung Sucht", "falsche Freunde", "Risiko Bindungsstörung"

Der Ausweg: Lernen, gesunde Grenzen zu ziehen 💪

Die Heilung dieser tiefen Wunde ist ein langer Weg, aber er ist möglich. Der Schlüssel ist eine Doppeldiagnose-Therapie, die beides versteht: die Sucht und die zugrunde liegende Bindungsstörung.

  • Die Sucht stoppen: Der erste Schritt ist oft, die akute Sucht zu behandeln, um überhaupt therapiefähig zu werden.
  • Therapie der Bindungsstörung: Das ist die eigentliche Arbeit an der Wurzel. In einer guten Therapie lernst du:
    • Grenzen erkennen und setzen: Das „Nein“ als wichtigen Akt der Selbstliebe zu entdecken.
    • Gefühle regulieren: Gesunde Wege zu finden, um mit der inneren Leere und Angst umzugehen.
    • Sichere Beziehungen aufbauen: Die Beziehung zum Therapeuten wird zum Übungsfeld für eine sichere, verlässliche Bindung.
    • Selbstwert stärken: Zu erkennen, dass dein Wert nicht von der Zustimmung anderer abhängt.

Fazit: Es ist nicht deine Schuld, aber es ist deine Verantwortung

Wenn du dich in diesen Mustern der Distanzlosigkeit wiedererkennst, ist das Wichtigste: Es ist nicht deine Schuld. Es ist das Ergebnis von Verletzungen, die dir zugefügt wurden, als du dich nicht wehren konntest.

Aber es ist heute deine Verantwortung, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Der Weg aus der Sucht ist für dich untrennbar mit dem Erlernen von gesunden Grenzen und echter, sicherer Selbstliebe verbunden. Suche dir Hilfe, die das versteht.


Häufige Fragen (FAQ) zum Thema Distanzlosigkeit & Sucht


Ist jemand, der sehr offen und extrovertiert ist, automatisch distanzlos?

Nein, absolut nicht. Extrovertierte Menschen tanken Energie aus sozialen Kontakten, haben aber in der Regel gesunde Grenzen und ein gutes Gespür für soziale Situationen. Eine Person mit einer enthemmten Bindungsstörung handelt nicht aus Stärke, sondern aus einem tiefen, unbewussten Bedürfnis nach Bindung. Ihr Verhalten wirkt oft unangemessen, zu schnell zu intim und sie kann Gefahrensituationen nicht richtig einschätzen.

Kann man als Erwachsener lernen, gesunde Grenzen zu setzen, wenn man es als Kind nie hatte?

Ja, definitiv! Das ist ein zentrales Ziel in vielen Psychotherapien. Es ist ein schwieriger und langer Prozess, weil man gegen die tiefsten inneren Programmierungen arbeitet. Aber es ist möglich, durch bewusste Übung und neue, sichere Beziehungserfahrungen (z.B. in der Therapie) zu lernen, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu schützen.

Wie hängt das mit dem Thema „Co-Abhängigkeit“ zusammen?

Es gibt Überschneidungen. Während ein Co-Abhängiger sich oft auf eine spezifische (süchtige) Person fixiert und deren Bedürfnisse über die eigenen stellt, ist die Distanzlosigkeit einer enthemmten Bindungsstörung oft „ungezielter“. Die Person sucht bei vielen verschiedenen, auch fremden Menschen nach schneller, intensiver Nähe und Bestätigung. Beide Verhaltensweisen entspringen aber einem Mangel an Selbstwert und gesunden Grenzen.


Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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