Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen schweres Kindheitstrauma (Missbrauch, Vernachlässigung), Komplexe PTBS, Dissoziation und Sucht.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery dachte ich, ich hätte die Wurzeln der Sucht verstanden. Aber heute graben wir tiefer. Wir graben bis zum verseuchten Grundwasser. Bis zu der Wunde, die vielen anderen Wunden zugrunde liegt: das komplexe Trauma.
Wir reden hier nicht über den Schock eines einzelnen Unfalls, der eine „normale“ PTBS auslöst. Wir reden über die langsame, schleichende Vergiftung einer Kindheit ohne Sicherheit. Einer Jugend voller emotionaler Kälte, unberechenbarer Gewalt oder systematischem Mobbing. Wir reden über das Trauma, das keine einzelne, saubere Narbe hinterlässt, weil es nicht nur ein Teil deiner Geschichte ist. Es ist das Fundament, auf dem deine ganze Persönlichkeit gebaut wurde.
Wenn du in einem permanenten Kriegszustand aufwächst, entwickelt dein Gehirn geniale Überlebensstrategien. Aber diese Strategien – ständige Alarmbereitschaft, emotionales Abschalten, Misstrauen – machen dich im späteren „Frieden“ eines normalen Lebens kaputt. Und dann findest du die eine Sache, die diesen inneren Krieg für einen Moment beendet: die Droge.
Deine Sucht ist keine Krankheit, die dich aus heiterem Himmel befallen hat. Sie ist der letzte, logische und fast unvermeidliche Überlebensversuch einer Seele, die in einem permanenten Kriegszustand aufgewachsen ist. Heilung bedeutet nicht, die Sucht zu bekämpfen, sondern den Krieg in dir endlich zu beenden.
🎯 Die harten Fakten: Die Epidemie des Kindheitstraumas
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die Epidemie des Kindheitstraumas
Die Verbindung zwischen langanhaltendem Kindheitstrauma und Sucht ist eine der am besten belegten in der gesamten Psychiatrie:
- Offizielle Diagnose kPTBS: Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) ist seit 2018 eine offizielle Diagnose in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) der WHO. Dies ist eine riesige Anerkennung für Betroffene.
- ACEs als Hauptursache: Die ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) ist der erdrückende Beweis: Menschen, die in ihrer Kindheit 4 oder mehr belastende Ereignisse (wie Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt) erlebt haben, haben ein 7- bis 10-fach höheres Risiko für eine Drogenabhängigkeit.
- Extrem hohe Komorbidität: Studien zeigen, dass die Raten von Suchterkrankungen bei Menschen mit kPTBS extrem hoch sind. Sucht ist hier eher die Regel als die Ausnahme und dient als primäre Bewältigungsstrategie.
- Wichtige Vordenker: Forscher und Autoren wie Bessel van der Kolk („Das Trauma in dir“) und Pete Walker („Komplexe PTBS“) haben das Verständnis für die tiefgreifenden Auswirkungen von Entwicklungstrauma revolutioniert.
🔬 Wissenschaft: kPTBS vs. PTBS – Mehr als nur ein Schock
kPTBS ist fundamental anders als die „klassische“ PTBS:
- PTBS: Entsteht durch ein **einzelnes, klar abgrenzbares Ereignis** (Unfall, Überfall). Die Kernsymptome sind Flashbacks, Vermeidung und Übererregung.
- kPTBS: Entsteht durch **langanhaltendes, wiederholtes Trauma** (oft über Jahre in der Kindheit). Zusätzlich zu den PTBS-Symptomen kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen in:
- Emotionsregulation: Ständige Gefühls-Chaos.
- Selbstbild: Tiefsitzende Gefühle von Scham und Wertlosigkeit.
- Beziehungsfähigkeit: Massives Misstrauen, Probleme mit Nähe.
Das „Window of Tolerance“: Nach Dr. Dan Siegel ist das dein „Wohlfühl-Fenster“. Durch kPTBS wird dieses Fenster winzig klein. Du bist entweder in der **Hyper-Erregung** (Panik, Wut, Angst – der „Fight/Flight“-Modus) oder in der **Hypo-Erregung** (Leere, Taubheit, Dissoziation – der „Freeze“-Modus). Drogen sind der Versuch, sich gewaltsam in dieses Fenster zurückzubomben.
🎭 Die Sucht als Überlebenswerkzeug: Deine Rüstung, dein Freund, deine Peitsche

Für eine Person mit kPTBS ist die Sucht selten eine Suche nach Spaß. Sie ist ein hochspezialisiertes Multi-Tool-Set zum Überleben.
⚠️ Die Funktion der Sucht: Deine Rüstung, dein Freund, deine Peitsche
Deine Sucht war nicht sinnlos. Sie hatte überlebenswichtige Funktionen für dein traumatisiertes Nervensystem:
- Die Sucht als Rüstung (gegen Hyper-Erregung): Alkohol, Benzos oder Opiate dämpfen die ständige Alarmbereitschaft, die Panik und die Wut. Sie machen die Welt erträglich leise und langsam.
- Die Sucht als Lebensfunke (gegen Hypo-Erregung): Stimulanzien wie Koks oder Speed durchbrechen die lähmende Leere, die Taubheit und die Dissoziation. Sie lassen dich für einen Moment wieder etwas fühlen, selbst wenn es nur künstliche Euphorie ist.
- Die Sucht als Peitsche (zur Selbstbestrafung): Die tiefsitzende Scham und das Gefühl, „schlecht“ zu sein, führen oft zu selbstzerstörerischem Verhalten. Die Sucht wird zum Werkzeug, um dich selbst für dein Dasein zu bestrafen – ein unbewusster Akt, der sich furchtbar vertraut anfühlt.
🛡️ Safer Use: Dein Weg aus dem Kriegszustand

Der Ausweg aus diesem Teufelskreis ist komplex und erfordert professionelle Hilfe. Aber der Weg beginnt mit dem Verständnis, dass du nicht die Sucht, sondern den Krieg beenden musst.
🛡️ Safer Use: Wie du Frieden mit dir selbst schließt
Heilung von kPTBS ist ein Marathon. Der wichtigste Grundsatz lautet: Sicherheit zuerst!
- Stabilisierung vor Konfrontation: Du musst zuerst lernen, dich im Hier und Jetzt sicher zu fühlen, bevor du in die alten Wunden gehst. Das bedeutet: Sucht stoppen, Grounding-Techniken lernen und ein sicheres Umfeld schaffen.
- Finde einen Trauma-Spezialisten: Du brauchst einen Therapeuten, der das Wort „kPTBS“ kennt und versteht. Frage gezielt nach Erfahrung mit Entwicklungstrauma und Sucht. Reine Suchttherapeuten sind hier oft überfordert.
- Körperarbeit ist kein Luxus, sondern Pflicht: Trauma sitzt im Körper und im Nervensystem. Reine Gesprächstherapie reicht oft nicht aus. Ansätze wie **Somatic Experiencing, Trauma-sensibles Yoga oder EMDR** sind entscheidend, um die im Körper gespeicherte Ladung zu entlassen.
- Praktiziere radikales Selbstmitgefühl: Du wirst Rückschläge haben. Alte Gefühle werden hochkommen. Du wirst ungeduldig sein. Sei gnädig mit dir. Du heilst von Verletzungen, die über Jahre entstanden sind. Das braucht Zeit. Du bist keine Maschine, die man repariert. Du bist eine Pflanze, die langsam wieder wachsen muss.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Was ist der Hauptunterschied zwischen „normaler“ PTBS und Komplexer PTBS?
✅ Klassische PTBS entsteht meist durch ein einzelnes Schock-Ereignis (z.B. Unfall). Komplexe PTBS (kPTBS) entsteht durch langanhaltendes, wiederholtes Trauma (z.B. jahrelanger Missbrauch). Das verändert nicht nur die Angstreaktion, sondern die gesamte Persönlichkeit: das Selbstbild, die Beziehungsfähigkeit und die Emotionsregulation sind viel tiefgreifender gestört.
❤️ Ich erkenne mich wieder. Bin ich jetzt für immer „kaputt“?
✅ Nein, absolut nicht. Du bist nicht kaputt, du hast hochwirksame Überlebensstrategien entwickelt, um Unerträgliches auszuhalten. Diese Strategien sind heute vielleicht nicht mehr hilfreich, aber sie waren mal überlebensnotwendig. Mit der richtigen Therapie kann man lernen, neue, gesündere Strategien zu entwickeln und die Wunden heilen zu lassen. Heilung ist möglich.
🧠 Warum muss ich die Sucht und das Trauma gleichzeitig behandeln?
✅ Weil sie ein Teufelskreis sind. Das Trauma erzeugt den psychischen Schmerz, den die Sucht betäubt. Die Sucht wiederum verhindert, dass du das Trauma wirklich verarbeiten kannst. Eine gute, integrierte Therapie adressiert immer beide Probleme parallel, um diesen Kreislauf nachhaltig zu durchbrechen.
💪 Was ist der Unterschied zwischen kPTBS und einer Borderline-Störung?
✅ Die Überschneidung ist riesig und wird unter Experten heiß diskutiert. Viele Symptome sind identisch (emotionale Instabilität, gestörtes Selbstbild, Beziehungsprobleme). Viele Therapeuten glauben heute, dass Borderline im Grunde eine besonders schwere Form der kPTBS ist. Die genaue Diagnose ist am Ende weniger wichtig als die Erkenntnis, dass die Ursache in langanhaltendem Kindheitstrauma liegt und die Behandlung trauma-fokussiert sein muss.
😔 Meine Therapie fühlt sich an, als würde sie mich retraumatisieren. Was soll ich tun?
✅ Vertraue deinem Gefühl! Das ist ein riesiges Warnsignal. Eine gute Trauma-Therapie geht extrem langsam und ressourcenorientiert vor. Der erste und wichtigste Schritt ist immer die Stabilisierung. Wenn dein Therapeut dich zu früh oder zu intensiv mit den traumatischen Inhalten konfrontiert, ohne dass du die nötigen Skills zur Selbstregulation hast, ist es nicht die richtige Therapie für dich. Sprich es an oder suche dir einen anderen Therapeuten.
📚 Lesetipp zur Vertiefung
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🎬 NeelixberliN Fazit

Du bist kein Süchtiger. Du bist ein Veteran eines langen, stillen Krieges, den außer dir niemand gesehen hat. Deine Symptome – die Angst, die Wut, die Dissoziation, die Sucht – sind keine Fehler in deinem Charakter. Sie sind die Narben deiner Schlachten. Sie sind der Beweis, dass du überlebt hast.
Der schwierigste Teil der Heilung war für mich, das zu akzeptieren. Aufzuhören, mich für meine Überlebensstrategien zu hassen. Aufzuhören, gegen meine Symptome zu kämpfen, und stattdessen neugierig zu werden, wovor sie mich eigentlich beschützen wollten.
Die Recovery von kPTBS und Sucht ist nicht der Kampf gegen die Dunkelheit. Es ist der Prozess, langsam wieder Licht hereinzulassen. Es ist das Erlernen der radikalen Idee, dass du sicher bist. Genau hier. Genau jetzt. Es ist das Friedensabkommen mit dir selbst. Und dieser Frieden ist tiefer, stabiler und realer als jeder Rausch es jemals sein könnte.
📖 Quellen & Referenzen
- Weltgesundheitsorganisation (WHO): Internationale Klassifikation der Krankheiten, 11. Revision (ICD-11). (Definiert die offizielle Diagnose der Komplexen PTBS).
- Walker, Pete (2013). Complex PTSD: From Surviving to Thriving. (Das Standardwerk für Betroffene).
- Van der Kolk, Bessel A. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma.
- Siegel, Daniel J. (2010). Mindsight: The New Science of Personal Transformation. (Grundlagen zum „Window of Tolerance“).
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