Der trockene Säufer: Warum du clean, aber immer noch ein Arschloch bist

Der trockene Säufer: Warum du clean, aber immer noch ein Arschloch bist

Ein Artikel aus der „NACH DEM RAUSCH“-Serie von NeelixberliN

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Trigger-Warnung: Dieser Artikel ist eine ungeschönte Auseinandersetzung mit negativen Verhaltensmustern in der Nüchternheit („Dry Drunk Syndrome“) und kann konfrontativ wirken.


Nach 28 Jahren Sucht & Recovery habe ich mehr Menschen an ihrer Nüchternheit scheitern sehen als an der Droge selbst. Das klingt paradox, aber es ist die bittere Wahrheit. Ich spreche von den Leuten, die aufgehört haben zu konsumieren, aber nie angefangen haben, sich zu verändern. Die „trockenen Säufer“. Diejenigen, die die Flasche oder die Spritze weggelegt haben, aber den ganzen emotionalen Müll im Kopf behalten haben: die Wut, das Selbstmitleid, die Arroganz, die Unehrlichkeit.

Sie sind clean, aber sie sind nicht in Recovery. Sie sind körperlich nüchtern, aber emotional immer noch voll drauf. Sie sind oft unglücklicher als zu ihren Konsumzeiten und machen ihr gesamtes Umfeld wahnsinnig mit ihrer unzufriedenen, egozentrischen Art. Ich kenne das, weil ich selbst phasenweise so war. Ein unausstehliches Arschloch im Gewand der Nüchternheit.

Das „Dry Drunk Syndrome“ ist kein Mythos, es ist die gefährlichste und am meisten unterschätzte Phase der Genesung. Es ist die letzte, verzweifelte Bastion des süchtigen Egos. Und es ist fast immer die direkte Vorstufe zum nächsten Rückfall. Heute schauen wir uns dieses Phänomen unzensiert an und klären, was der Unterschied zwischen reiner Abstinenz und echter Genesung ist.

Ein „trockener Säufer“ zu sein bedeutet, den Körper vom Gift zu befreien, aber die Seele im alten Gefängnis zu lassen. Echte Recovery beginnt erst dann, wenn du aufhörst, nur nicht zu trinken, und anfängst, ein anderer Mensch zu werden.


🎯 Die harten Fakten: Die Wissenschaft hinter dem „trockenen“ Elend

📊 Die harten Fakten in Zahlen: Abstinenz ist nicht genug

Das „Dry Drunk Syndrome“ ist ein in der Recovery-Szene seit Jahrzehnten bekanntes Phänomen:

  • Ursprung in den 1950ern: Der Begriff „Dry Drunk“ (trockener Trinker) wurde von den Anonymen Alkoholikern geprägt, um den Zustand von Menschen zu beschreiben, die zwar nicht mehr trinken, aber immer noch die negativen Denkmuster und Verhaltensweisen eines aktiven Alkoholikers aufweisen.
  • Verbindung zu PAWS: Viele Symptome des „Dry Drunk“, wie Reizbarkeit und emotionale Ausbrüche, überschneiden sich stark mit denen des Post-Akuten Entzugssyndroms (PAWS), das die neurobiologische Grundlage für die emotionale Instabilität nach dem Entzug darstellt.
  • Hohes Rückfallrisiko: Es gibt keine harten Statistiken zur Häufigkeit, aber Therapeuten und Sponsoren sind sich einig: Ein „Dry Drunk“-Zustand, der nicht behandelt wird, ist einer der sichersten Prädiktoren für einen zukünftigen Rückfall, da das innere Elend irgendwann unerträglich wird.
  • Emotionale Nüchternheit als Ziel: Das Konzept der „Emotional Sobriety“, entwickelt von AA-Mitgründer Bill Wilson, gilt heute in vielen Therapieformen als das eigentliche Ziel der Genesung – es beschreibt die Fähigkeit, das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen ohne Drama oder Betäubung zu meistern.

⚠️ Checkliste: Erkennst du den „trockenen Säufer“ in dir?

Sei ehrlich zu dir. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Muster. Je mehr Punkte zutreffen, desto größer die Gefahr:

  • Grandiosität & Egozentrik: Du bist stolz auf deine Nüchternheit und schaust auf andere (noch konsumierende oder „weniger weit gekommene“) herab. Deine Probleme sind immer die wichtigsten.
  • Chronische Unzufriedenheit & Undankbarkeit: Nichts ist gut genug. Du nörgelst, beklagst dich und siehst überall nur das Negative, anstatt dankbar für deine Nüchternheit zu sein.
  • Impulsivität & Reizbarkeit: Du hast eine extrem kurze Zündschnur. Kleinigkeiten bringen dich zur Weißglut, du reagierst kindisch und impulsiv.
  • Selbstmitleid: Du fühlst dich als Opfer der Umstände, deines Schicksals oder anderer Menschen. Du badest in dem Gefühl, wie schwer du es doch hast.
  • Unehrlichkeit & Manipulation: Du lügst bei Kleinigkeiten, verdrehst die Wahrheit zu deinem Vorteil oder versuchst, andere zu kontrollieren, um deinen Willen zu bekommen.
  • Verurteilung & Intoleranz: Du hast für alles und jeden eine harte Meinung und verurteilst andere für ihre Fehler, während du deine eigenen übersiehst.

🎭 Die Wurzel des Problems: Warum passiert das?

Eine Oase mit einer vergifteten Quelle, als Symbol für das "Dry Drunk Syndrom", bei dem die Abstinenz äußerlich schön, aber innerlich durch unbehandelte Probleme vergiftet ist.
Abstinenz schafft eine Oase. Aber wenn die Quelle – deine innere Haltung – vergiftet bleibt, wird auch die schönste Oase über kurz oder lang sterben.

Ein „Dry Drunk“ ist kein böser Mensch. Er ist ein Mensch, der auf halbem Weg der Genesung steckengeblieben ist. Die Ursachen sind eine Mischung aus Neurobiologie und unbehandelter Psychologie.

🔬 Wissenschaft: Der Geist des Süchtigen in einem nüchternen Körper

Der „Dry Drunk“-Zustand ist die logische Folge, wenn man nur die Substanz, aber nicht die zugrundeliegende „Sucht-Software“ entfernt:

  • Die Suchtpersönlichkeit bleibt: Die Verhaltens- und Denkmuster, die zur Sucht geführt haben – Egozentrismus, Impulsivität, emotionale Unreife, die Unfähigkeit zur Selbstreflexion – sind immer noch aktiv. Sie finden nur neue Ventile (z.B. Wut statt Trinken).
  • Unbehandeltes PAWS: Die neurobiologischen Nachwehen des Entzugs (Post-Akutes Entzugssyndrom) wie Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit werden nicht als solche erkannt, sondern als Teil der „neuen, nüchternen Persönlichkeit“ fehlinterpretiert.
  • Fehlende emotionale Werkzeuge: Der Betroffene hat nie gelernt, auf gesunde Weise mit Stress, Frustration oder Enttäuschung umzugehen. Ohne die Droge als Betäubungsmittel ist er diesen Gefühlen hilflos ausgeliefert und reagiert mit den alten, destruktiven Mustern.
  • Das Ego schlägt zurück: Nach dem anfänglichen Erfolg der Abstinenz meldet sich oft das Ego zurück. Der Stolz, es „geschafft“ zu haben, verhindert die notwendige Demut, um weiter an den eigenen charakterlichen Schwächen zu arbeiten.

🛡️ Safer Use: Der Weg zur emotionalen Nüchternheit

Eine Person legt eine starre "Abstinent"-Maske ab, um ihr wahres, verletzliches Gesicht zu zeigen. Symbol für den Schritt zur emotionalen Nüchternheit.
Reine Abstinenz ist nur eine Maske. Echte Genesung (Recovery) beginnt, wenn du den Mut hast, dein wahres, unvollkommenes Gesicht dahinter zu zeigen.

Der Ausweg aus der Hölle des „trockenen Säufers“ ist der Schritt von der reinen Abstinenz zur echten, emotionalen und spirituellen Recovery. Das ist die „motivierende Esoterik“, die in Wahrheit knallharte psychologische Arbeit ist.

🛡️ Safer Use: Vom trockenen Säufer zum emotional nüchternen Menschen

Das ist der Schritt von der reinen Abstinenz zur echten Recovery. Es ist die Arbeit, die viele scheuen, die aber alles verändert.

  1. Erkenne den Unterschied: Abstinenz ist das, was du NICHT tust (konsumieren). Recovery ist das, was du stattdessen TUST (an dir arbeiten, wachsen, ehrlich werden).
  2. Schick dein Ego in den Urlaub: Die wichtigste Zutat ist Demut. Die Akzeptanz, dass du nicht „fertig“ bist, nur weil du nicht mehr konsumierst. Die Bereitschaft, deine eigenen Fehler schonungslos anzusehen.
  3. Finde dein „spirituelles Prinzip“: Das ist die „motivierende Esoterik“, die funktioniert. Finde etwas, das größer ist als dein eigenes, krankes Ego. Das muss nicht Gott sein. Es kann die Weisheit deiner Selbsthilfegruppe sein, die Liebe zu deiner Familie, die Prinzipien der Wissenschaft oder die Verbundenheit mit der Natur. Etwas, das dich aus deinem Egozentrismus herausholt.
  4. Mache eine radikale Inventur deines Charakters: Das ist der Kern der Schritte 4 bis 10 der 12-Schritte-Programme. Ob du das Programm magst oder nicht, das Prinzip ist universell: Erkenne deine Muster (Schritt 4), gib sie zu (Schritt 5) und arbeite aktiv daran, sie zu ändern (Schritte 6 & 7). Das ist die eigentliche Arbeit.

🤔 Ausführliche FAQ

🤔 Ich bin clean, aber immer noch unglücklich und wütend. Bin ich ein „trockener Säufer“?

✅ Das ist sehr wahrscheinlich. Wenn du dich in der Checkliste wiedererkennst, ist das kein Grund zur Panik, sondern ein wichtiger Weckruf. Es bedeutet, dass deine Recovery auf der nächsten Ebene weitergehen muss – von der reinen Abstinenz zur Arbeit an deinem emotionalen und charakterlichen Fundament.

❤️ Mein Partner ist trocken, aber immer noch ein Arschloch. Wird das jemals besser?

✅ Es wird nur besser, wenn er oder sie bereit ist, die Arbeit zu tun, die über das reine Nicht-Konsumieren hinausgeht. Du als Angehöriger kannst das nicht erzwingen. Aber du kannst klare Grenzen setzen gegenüber dem unerträglichen Verhalten und ihm nahelegen, sich mit dem Konzept der „emotionalen Nüchternheit“ zu beschäftigen (z.B. durch diesen Artikel oder Al-Anon).

🧠 Reicht es denn nicht, einfach nur nicht zu konsumieren?

✅ Für eine Weile vielleicht. Aber reine Abstinenz („white-knuckling“) ist oft ein Zustand des permanenten Kampfes und der Unzufriedenheit. Ohne eine tiefere Veränderung der Persönlichkeit und des Umgangs mit dem Leben ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass man entweder rückfällig wird oder zu einem verbitterten, unglücklichen Menschen wird.

💪 Muss ich religiös sein, um „spirituell“ zu genesen?

✅ Absolut nicht. „Spiritualität“ in der Recovery bedeutet nicht Religion. Es bedeutet, anzuerkennen, dass es Prinzipien gibt, die größer sind als dein eigenes Ego. Für einen Atheisten kann das die kollektive Weisheit seiner Gruppe sein, die Liebe zu seinen Kindern oder das Vertrauen in den wissenschaftlichen Prozess. Es geht darum, nicht mehr der alleinige Gott im eigenen, chaotischen Universum sein zu wollen.

😔 Wie fange ich an, an meinem „Charakter“ zu arbeiten?

✅ Der einfachste, bewährteste Weg ist der 4. Schritt der 12-Schritte-Programme: eine „schonungslose, furchtlose moralische Inventur“ von dir selbst. Nimm dir einen Stift und ein Papier und schreibe unzensiert deine Ängste, deine Wut und deine Fehler auf. Allein das Aufschreiben ist ein gewaltiger Schritt. Der nächste ist, es einem anderen Menschen (Sponsor, Therapeut) mitzuteilen.

🎬 NeelixberliN Fazit

Ein Kompass, dessen Nadel auf das Wort "Demut" zeigt, als Symbol für die spirituelle und emotionale Ausrichtung in der wahren Recovery.
Dein wahrer Kompass in der Recovery ist nicht die Anzahl der cleanen Tage, sondern das Maß deiner Demut und Ehrlichkeit.

Die Flasche wegzustellen ist der Eintrittspreis, nicht der Hauptgewinn. Das war die härteste Lektion für mein Ego. Ich dachte, meine Nüchternheit allein mache mich zu einem besseren Menschen. Was für ein Irrtum. Ich war oft nur ein Süchtiger ohne Droge.

Der Hauptgewinn ist, ein Mensch zu werden, mit dem du selbst gerne Zeit verbringen würdest. Ein Mensch, der seine Fehler zugeben kann, der anderen mit Mitgefühl statt mit Verurteilung begegnet und der akzeptiert, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums ist.

Die Arbeit daran ist hart, unbequem und fühlt sich manchmal wie „Esoterik“ an. Aber sie ist der einzige Weg von der trockenen Hölle in die echte, lebendige Freiheit. Nüchtern zu sein rettet dein Leben. Emotional nüchtern zu werden, gibt dir ein Leben, das es wert ist, gerettet zu werden.


📚 Quellen & Referenzen

  • Solberg, R. J. (1970). The Dry Drunk Syndrome. Hazelden Publishing. (Das Originalwerk, das den Begriff populär machte).
  • Wilson, B. (1957). „The Next Frontier: Emotional Sobriety.“ AA Grapevine. (Der Ursprungsartikel des AA-Mitgründers zum Konzept der emotionalen Nüchternheit).
  • SAMHSA (Substance Abuse and Mental Health Services Administration): Publikationen zum Post-Akuten Entzugssyndrom (PAWS).
  • Linehan, M. M. (2015). DBT® Skills Training Manual. (Grundlagenwerk für Therapien, die auf Verhaltens- und Einstellungsänderung abzielen).

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Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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