Ein Artikel aus der „Männer, Emotionen und Recovery“-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen intergenerationelles Trauma, Sucht in der Familie, Suizid, Trennungskonflikte und die psychologische Entwicklung von Kindern.
Dieses Thema ist wohl gleichzeitig eines der schwersten für mich und andere Väter. Denn ich kann dazu vor allem eines sagen: Ich habe das meiste verkackt und falsch gemacht. Sucht und Vaterrolle ist nicht einfach unter einen Hut zu bringen. Ich bin selbst Vater von drei wunderbaren Kindern, und die Geschichte der Vaterschaft in meiner Familie ist eine tragische. Mein eigener Vater hat es nicht geschafft und sich aufgrund von Sucht in meinem und seinem eigenen jungen Alter das Leben genommen.
Der einzige Grund, warum ich so lange gewartet hatte, meinen ersten Selbstmordversuch mit Heroin zu wagen, war, weil ich es eigentlich besser machen wollte als er. Ich weiß noch genau, wie mich die Emotionen, meinen Sohn nicht mehr sehen zu können, so überforderten, dass ich einfach keinen anderen Ausweg mehr wusste. Ich dachte, wie so oft, ohne mich ist er besser dran.
Diese Unzuverlässigkeit… wenn du das Wochenende nicht schaffst, weil der Konsum am Tag zuvor so stark war, dass du es am anderen Morgen nicht aus dem Bett schaffst. Der Konsum nach einem Wochenende, weil du es nicht erträgst, so lange warten zu müssen, bis du ihn wiedersehen kannst. Wenn dein Kind bei dir ist und du bis zum Abend wartest, bis es schläft, um dann den Alkoholpegel nachholen zu können – absolut verantwortungslos. Für Außenstehende völlig unverständlich, für einen Suchtkranken der Alltag. Ich habe nie vor meinen Kindern konsumiert, aber trotzdem war ich ein Suchtkranker, der nach außen ein starker und zuverlässiger Vater sein wollte, aber innerlich völlig gebrochen von Emotionen und Sucht gewesen ist.
Teilweise waren die Mütter selbst suchtkrank, und ich war auch noch so unfair, es in meinen cleanen Momenten genau wie sie als Vorwurf zu verwenden. Mir war da noch nicht bewusst, wie schwer mein Suchtverlauf noch werden würde. Dieser Artikel handelt vom schmerzhaften Versuch, aus diesen Mustern auszubrechen.
Der größte Gefallen, den du deinen Kindern als Vater in Recovery tun kannst, ist nicht, ihnen einen unverwundbaren Helden vorzuspielen, sondern ihnen einen echten, fühlenden Menschen zu zeigen, der lernt, mit seinen Wunden zu leben.
🎯 Die harten Fakten: Das emotionale Erbe der Väter
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Das emotionale Erbe der Väter
Die emotionale Abwesenheit und die Suchtproblematik von Vätern sind messbare Risikofaktoren:
- Hohes Risiko bei Trennung: Studien im „Journal of Studies on Alcohol and Drugs“ zeigen, dass Männer nach einer Trennung oder Scheidung ein signifikant höheres Risiko für erhöhten Alkoholkonsum und die Entwicklung einer Abhängigkeit haben als verheiratete Männer.
- 4x höheres Suchtrisiko für Kinder: Kinder aus suchtbelasteten Familien, insbesondere Söhne von Vätern mit einer Suchterkrankung, haben ein bis zu viermal höheres Risiko, selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln (Quelle: NIAAA).
- Lernmodell „Vater“: Die „Social Learning Theory“ belegt, dass Kinder Verhaltensweisen primär durch Beobachtung der Eltern lernen. Ein Vater, der Stress mit Substanzen bewältigt, lehrt dieses Muster unbewusst weiter.
- Folgen emotionaler Abwesenheit: Zahlreiche Studien korrelieren einen emotional unzugänglichen Vater mit höheren Raten von Depressionen, geringem Selbstwertgefühl und Verhaltensproblemen bei Kindern.
🔬 Wissenschaft: Wie Väter die emotionale DNA ihrer Kinder prägen
Kinder lernen nicht, was wir ihnen sagen, sondern was wir ihnen vorleben. Drei psychologische Konzepte sind hier entscheidend:
- Modelllernen: Kinder sind Imitations-Maschinen. Sie kopieren unbewusst die Bewältigungsstrategien ihrer Eltern. Wenn Papas Strategie für Stress „Schweigen und Trinken“ ist, wird das Kind dieses Muster als normal und nachahmenswert abspeichern.
- Bindungstheorie: Eine sichere emotionale Bindung entsteht, wenn ein Kind lernt, dass ALLE seine Gefühle (auch Wut und Trauer) willkommen sind und von den Eltern „gehalten“ werden können. Ein emotional verschlossener Vater signalisiert dem Kind: „Deine negativen Gefühle sind eine Bedrohung für unsere Beziehung.“
- Spiegelneuronen: Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, die Emotionen anderer zu spiegeln, um Empathie zu lernen. Wenn ein Vater keine Gefühle zeigt, gibt es für das Kind nichts zu spiegeln. Es lernt nicht, seine eigenen oder die Gefühle anderer richtig zu deuten.
🎭 Der Mythos vom „starken Papa“: Wie wir unsere Kinder emotional vergiften

Der ungeschriebene Code des „starken Papas“ ist ein Gift, das wir von Generation zu Generation weitergeben. Er lehrt Kinder, dass Gefühle falsch sind, schafft eine Kultur des Schweigens und verhindert echte Verbindungen.
⚠️ Wie der Mythos vom „starken Papa“ die nächste Generation vergiftet
Die „Alles im Griff“-Fassade eines Vaters in Recovery ist keine Schutzmauer für die Familie, sondern ein Brandbeschleuniger für intergenerationelles Trauma:
- Du erziehst zur Unehrlichkeit: Du lehrst deine Kinder, dass es wichtiger ist, nach außen hin stark zu wirken, als nach innen ehrlich zu sein. Das ist die exakte Denkweise, die in eine Sucht führen kann.
- Du gibst emotionale Defizite weiter: Dein Sohn lernt, seine verletzlichen Anteile zu verleugnen. Deine Tochter lernt, dass Männer emotional nicht verfügbar sind.
- Du schaffst emotionale Einsamkeit: Du bist ein emotionaler Fremder in deiner eigenen Familie. Diese Isolation ist ein enormer Stressfaktor und ein bekannter Trigger für Rückfälle.
- Du verhinderst Heilung: Indem du Recovery als ein unsichtbares Geheimnis behandelst, verwehrst du deiner Familie die Chance, gemeinsam als System zu heilen.
⚡ Die Trennungs-Falle: Wenn der Streit mit der Ex den Rückfall befeuert
Für getrennt lebende Väter potenziert sich der Druck. Konflikte mit der Ex-Partnerin werden zum direkten Brandbeschleuniger für die Sucht. Es ist ein klassischer Teufelskreis:
- Der Auslöser: Ein Streit über Umgangszeiten, Geld oder neue Partner entfacht massive Gefühle von Ungerechtigkeit, Wut und Ohnmacht.
- Die Sucht-Logik: Da diese Gefühle als „unmännlich“ oder unerträglich gelten, schreit das Suchthirn nach der altbekannten Betäubung. Der Konsum wird zur vermeintlichen „Lösung“, um den Konflikt auszuhalten.
- Die Konsequenz: Durch den Konsum wird der Vater unzuverlässig, sagt Termine ab oder ist während des Umgangs emotional nicht präsent.
- Die Belastung für das Kind: Das Kind fühlt sich unwichtig, schuldig („Papa ist sauer wegen mir“) oder gerät in Loyalitätskonflikte. Die Beziehung zum Vater wird weiter beschädigt.
- Der Kreis schließt sich: Die eigene Scham über das Versagen als Vater und die Enttäuschung des Kindes werden zum Anlass für den nächsten Konsum.
Dieser Kreislauf macht deutlich, dass die Fähigkeit zur nüchternen Konfliktlösung und emotionalen Regulation für getrennte Väter in Recovery absolut überlebenswichtig ist (Quelle: Whiteside & Becker, „Journal of Family Psychology“).
🛡️ Safer Use: Dein Werkzeugkasten für authentische Vaterschaft

Authentisch zu sein bedeutet nicht, deine Kinder mit deinen Problemen zu überladen. Es bedeutet, ihnen altersgerecht zu zeigen, wie ein Mensch mit den Herausforderungen des Lebens umgeht.
🛡️ Safer Use: Dein Werkzeugkasten für den echten Papa
Authentisch zu sein bedeutet nicht, dein Kind mit Erwachsenenproblemen zu belasten. Es bedeutet, ihm altersgerecht deine Menschlichkeit zu zeigen.
- Praktiziere altersgerechte Ehrlichkeit: „Papa hatte früher eine Krankheit im Kopf, die ihn oft wütend oder traurig gemacht hat. Deswegen gehe ich zu meinen Meetings, damit ich lerne, besser mit meinen Gefühlen umzugehen.“
- Benenne deine Gefühle (die sicheren): „Boah, ich bin gerade echt frustriert, weil das nicht geklappt hat“ oder „Ich bin heute einfach nur sehr müde und ein bisschen traurig.“
- Entschuldige dich für DEIN Verhalten: „Es tut mir leid, dass ich vorhin so laut und ungeduldig war. Ich war gestresst, aber das war nicht okay von mir.“ Das lehrt Kinder Verantwortung.
Extra-Werkzeuge für getrennt lebende Väter:
- Business-Modus mit der Ex-Partnerin: Behandle die Kommunikation wie einen Job. Sachlich, schriftlich (E-Mail statt hitzige Telefonate) und immer nur auf das Wohl des Kindes fokussiert. Mache sie nicht zu deiner Therapeutin.
- Schaffe sichere Inseln für dein Kind: Deine Zeit mit dem Kind ist eine konfliktfreie Zone. Etabliere feste, verlässliche Rituale (jeden Samstag Pfannkuchen machen), die deinem Kind Sicherheit geben, egal was zwischen den Eltern passiert.
- Trenne die Fronten: Hol dir einen Anwalt für den Rechtsstreit UND einen Therapeuten/Sponsor für den emotionalen Kampf. Vermische niemals diese beiden Schlachtfelder.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Soll ich meinen Kindern von meiner Sucht erzählen? Und wenn ja, wann und wie?
✅ Ja, aber altersgerecht. Kleine Kinder brauchen keine Details über Substanzen. Sie verstehen das Konzept von „Krankheit“. Du kannst sagen: „Papa hat eine Krankheit, die manchmal sein Verhalten steuert, aber er arbeitet hart daran, gesund zu werden.“ Im Teenager-Alter können und sollten die Gespräche ehrlicher und detaillierter werden. Am wichtigsten ist die Botschaft: Es ist eine Krankheit, keine moralische Schwäche, und man kann lernen, damit zu leben.
❤️ Was, wenn ich vor meinem Kind weine und es dadurch Angst bekommt?
✅ Kinder bekommen weniger Angst vor den Tränen selbst, sondern vor dem Unerklärlichen. Wenn du weinst, gehe auf Augenhöhe und erkläre, warum. „Papa ist gerade traurig, weil etwas Trauriges passiert ist. Aber das geht wieder vorbei. Manchmal muss man Traurigkeit einfach rauslassen.“ Deine Ruhe und Erklärung geben dem Kind Sicherheit und lehren es, dass Trauer ein normaler Teil des Lebens ist.
🧠 Meine Partnerin/Ex-Partnerin sagt, ich soll meine „Probleme“ von den Kindern fernhalten. Hat sie recht?
✅ Sie hat recht, dass du deine Kinder nicht als Therapeuten missbrauchen oder mit unangemessenen Details überladen solltest. Sie hat aber unrecht, wenn sie meint, du solltest eine „Alles ist super“-Show abziehen. Kinder spüren die Wahrheit sowieso. Der gesunde Mittelweg ist, die Emotionen nicht zu verstecken, aber sie altersgerecht zu kontextualisieren. Es geht darum, ein authentisches Vorbild im Umgang mit Schwierigkeiten zu sein, nicht darum, so zu tun, als gäbe es keine.
😔 Ich habe in der Vergangenheit so viel falsch gemacht und mein Kind oft enttäuscht. Ist es zu spät, das zu reparieren?
✅ Es ist niemals zu spät, um der Vater zu werden, der du heute sein kannst. Kinder sehnen sich nach Verlässlichkeit und ehrlicher Verbindung im Hier und Jetzt. Du kannst die Vergangenheit nicht ändern, aber du kannst heute und morgen ein verlässlicher, präsenter und ehrlicher Vater sein. Echte, aufrichtige Entschuldigungen (wenn das Kind alt genug ist) und vor allem beständiges, positives Verhalten in der Gegenwart können über die Zeit hinweg tiefe Wunden heilen.
🛡️ Was, wenn die Mutter meine Recovery sabotiert oder schlecht über mich redet?
✅ Das ist eine unglaublich schwere Situation. Du kannst die andere Person nicht kontrollieren. Konzentriere dich zu 100% auf das, was du kontrollieren kannst: dein eigenes Verhalten. Sei der Fels in der Brandung. Sei der verlässliche, nüchterne, liebevolle Elternteil, wenn das Kind bei dir ist. Sprich niemals schlecht über die Mutter vor dem Kind. Mit der Zeit wird die eigene Erfahrung des Kindes mit dir lauter sprechen als die Worte von jemand anderem. Deine gelebte Stabilität ist deine stärkste Antwort.
🎬 NeelixberliN Fazit

Bis heute ist dieses Thema mein größter Triggerpunkt. Ich konnte nie offen mit meinen Kindern darüber sprechen. Die Angst vor Abweisung, die Angst, dass sie die suchtkranke Person nicht von dem liebenden Vater unterscheiden können, ist riesig. Gleichzeitig ist da diese Verzweiflung über die verlorene Zeit und die unendliche Liebe, die man sonst durch Kinder erfahren kann. Und all das nicht offen kommunizieren, weil ich der starke Mann sein muss?
Ich weiß, dass die Fassade des „starken Papas“ eine Lüge ist, die alles nur schlimmer macht. Aber sie abzulegen, ist die vielleicht schwerste Aufgabe von allen.
Ich kann derzeit nur eines tun: Im Hier und Jetzt offen und ehrlich sein. Meine Gefühle heute zeigen und hoffen, dass sie es irgendwann verstehen. Ihnen den Vater zu geben, der ich heute sein kann, auch wenn ich nicht der Vater war, den sie in der Vergangenheit gebraucht hätten. Es geht darum, den Kreislauf des Schweigens zu durchbrechen, auch wenn es schmerzt. Das ist die einzige Chance, die wir haben, um es besser zu machen als die Väter vor uns.
📚 Quellen & Referenzen
- National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAAA): „Genetics of Alcohol Use Disorder“.
- Journal of Studies on Alcohol and Drugs: Forschungen zum Zusammenhang von Trennung und Substanzkonsum bei Männern.
- Journal of Child Psychology and Psychiatry: Forschungen zum Einfluss von Vätern auf die kindliche Entwicklung.
- Whiteside, M. F., & Becker, B. J. (2000). „Parental factors and the young child’s postdivorce adjustment: A meta-analysis of longitudinal studies.“ Journal of Family Psychology.
⭐ NeelixberliN Empfehlung: Experte für Männer in der Recovery
Es gibt wenige Menschen, die sich so tief und ehrlich mit dem Thema Männer, Emotionen und Sucht auseinandersetzen. Einer von ihnen, den ich sehr schätze, ist:
Ashley Clive Anthony Baker
Sucht Experte für Männer
Jemand, den ich nicht nur liebe, weil er eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Figur von NeelixberliN hat oder weil seine Initialen A.C.A.B. sind (was bei mir spezielle Assoziationen weckt 😉), sondern weil seine Arbeit verdammt gut und wichtig ist.
Wenn dich die Themen aus dieser Serie bewegen, schau dir unbedingt seinen Instagram-Kanal an und kontaktiere ihn für mehr Informationen zum Thema Männer, Sucht und Emotionen.