Hey Du,
es ist vielleicht die schmerzhafteste Nebenwirkung der Sucht, die Angehörige ertragen müssen: die Lügen. Die gebrochenen Versprechen, die Halbwahrheiten, die Ausreden, das Leugnen. Du fühlst dich hintergangen, nicht respektiert und verlierst langsam den Verstand, weil du nicht mehr weißt, was du glauben sollst.
Warum tun sie das? Warum lügt ein Mensch, den du liebst, dir so oft und dreist ins Gesicht? Um das zu verstehen, müssen wir uns ansehen, was die Sucht mit dem Gehirn und der Psyche macht.
Der Feind im eigenen Kopf: Das „Sucht-Gehirn“ als Meister-Lügner 🧠
Zusatzinfo: Zwei Personen in einem Kopf
Stell dir vor, in dem Kopf deines Angehörigen leben zwei Personen: sein wahres, gesundes Ich, das dich liebt und ehrlich sein will, und das „Sucht-Gehirn“.
Das Sucht-Gehirn ist ein primitiver Überlebensmechanismus. Sein einziges Ziel ist es, an den nächsten Stoff zu kommen, um den (vermeintlichen) Schmerz oder Entzug zu vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Es ist ein Meister-Lügner und Manipulator. Es lügt den Betroffenen selbst an („Du hast alles im Griff“) und es lügt dich an. Wenn dein Angehöriger lügt, spricht oft nicht der Mensch, den du liebst, sondern die Krankheit.

Die Psychologie der Lüge: Warum es nicht (immer) persönlich ist 🤔
Das Lügen ist selten ein persönlicher Angriff auf dich. Es ist eine Überlebensstrategie der Sucht. Die Hauptgründe sind:
- Angst & Scham: Die treibende Kraft. Die Angst vor den Konsequenzen (Streit, Trennung, Jobverlust) ist riesig. Genauso wie die tiefe Scham über den eigenen Kontrollverlust. Lügen ist ein verzweifelter Versuch, die Fassade aufrechtzuerhalten.
- Schutz vor der Realität: Sich die Sucht einzugestehen, bedeutet, sich dem ganzen Ausmaß des Scheiterns und dem Schmerz stellen zu müssen. Lügen (auch Selbstlügen) ist ein Abwehrmechanismus, um diese unerträgliche Realität auszublenden.
- Kognitive Verzerrung: Die Sucht verändert die Wahrnehmung. Betroffene glauben oft wirklich an ihre eigenen Lügen, z.B. an die Kontrollillusion („Ich kann jederzeit aufhören“). Sie sehen die Welt durch den Filter der Sucht.
- Manipulation: Ja, natürlich dient Lügen auch dazu, das Umfeld zu manipulieren, um an Geld oder die Substanz zu kommen oder um Konsequenzen zu vermeiden.
Die Auswirkungen: Wie die Lügen das Vertrauen vergiften 💔
Das ständige Lügen hat verheerende Auswirkungen auf das gesamte Umfeld.
- Zerstörtes Vertrauen: Es ist die Grundlage jeder Beziehung. Wenn sie weg ist, bricht alles zusammen.
- Konflikte & Streit: Der Alltag wird zu einem ständigen Kampf um Wahrheit und Lüge.
- Emotionale Belastung: Als Angehöriger fühlst du dich ständig hintergangen, wütend und hilflos.
- Folgen für Kinder: Kinder in suchtbelasteten Familien leiden besonders. Sie wachsen in einer Welt der Unsicherheit auf und lernen, dass man der Realität und den eigenen Gefühlen nicht trauen kann.

Dein Wegweiser als Angehörige/r: Was du tun kannst (und was nicht) 🗺️
Du kannst die Lügen nicht stoppen. Aber du kannst lernen, anders damit umzugehen.
- Hör auf, Detektiv zu spielen: Du wirst den Kampf um die „Wahrheit“ nicht gewinnen. Es ist ein endloses, zermürbendes Spiel.
- Konzentriere dich auf Fakten, nicht auf Worte: Verlasse dich nicht auf Versprechen. Orientiere dich an dem, was du siehst und was wirklich passiert.
- Setze klare Grenzen: „Ich höre dir gerne zu, aber ich werde dir kein Geld mehr leihen.“ / „Ich diskutiere nicht mit dir, wenn du getrunken hast.“
- Schütze dich selbst (Selbstfürsorge): Deine Energie ist kostbar. Investiere sie nicht in endlose Streits, sondern in dein eigenes Wohlbefinden. Such dir selbst Hilfe!
- Biete Hilfe an, aber übernimm keine Verantwortung: „Ich unterstütze dich, wenn du dir professionelle Hilfe suchst, aber ich werde nicht mehr für dich bei deinem Chef lügen.“
Fazit: Lieben heißt nicht, alles zu glauben
Zu verstehen, dass die Lügen oft ein Symptom der Krankheit sind, kann helfen, sie nicht ganz so persönlich zu nehmen. Es entschuldigt das Verhalten nicht, aber es erklärt es.
Der Weg zu echter Ehrlichkeit beginnt für den Süchtigen mit dem ersten Schritt in eine Therapie oder eine Selbsthilfegruppe. Dort lernt er, sich seiner eigenen Wahrheit zu stellen. Dein Weg als Angehörige/r ist es, in dieser Zeit auf dich selbst zu achten und gesunde Grenzen zu ziehen.
Häufige Fragen (FAQ) zum Thema Sucht und Lügen
Lügt der Süchtige mich absichtlich an, um mich zu verletzen?
In den allermeisten Fällen: Nein. Die Lügen sind kein gezielter Angriff auf dich, sondern eine verzweifelte Verteidigungsstrategie der Sucht. Sie dient dazu, den Konsum aufrechtzuerhalten, Konsequenzen zu vermeiden und die eigene, unerträgliche Scham zu verbergen. Der Schmerz, den es bei dir verursacht, ist ein „Kollateralschaden“ der Krankheit, nicht das eigentliche Ziel.
Soll ich meinen süchtigen Angehörigen mit jeder Lüge konfrontieren?
Das ist ein schmaler Grat. Ständige Konfrontationen und „Beweisführungen“ führen oft nur zu noch mehr Streit und besseren, raffinierteren Lügen. Es ist oft wirksamer, sich auf beobachtbare Fakten zu konzentrieren und Grenzen für dein eigenes Verhalten zu setzen. Statt „Du hast schon wieder gelogen!“, sage „Ich sehe, dass das Geld weg ist. Aus diesem Grund kann ich dir keins mehr geben.“
Wird er/sie jemals wieder aufhören zu lügen?
Ja. Ehrlichkeit ist ein zentraler und fundamentaler Bestandteil der Genesung (Recovery). Wenn ein Mensch beginnt, seine Sucht ernsthaft in einer Therapie und/oder Selbsthilfegruppen zu bearbeiten, ist das Erlernen von radikaler Ehrlichkeit (zu sich selbst und zu anderen) einer der ersten und wichtigsten Schritte. Das Vertrauen kann wieder wachsen, aber es braucht sehr viel Zeit und den Beweis durch ehrliche Taten.
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