Das kaputte Radio im Kopf: Meine Hölle mit Zwangsstörung & Sucht

Das kaputte Radio im Kopf: Meine Hölle mit Zwangsstörung & Sucht

Ein Artikel aus der „Die Psychologie der Sucht“-Serie von NeelixberliN

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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Zwangsstörung (OCD), intrusive Gedanken, Angststörungen und Sucht als Selbstmedikation. Er stellt keine medizinische Beratung dar.


Nach 28 Sucht & Jahren Recovery kann ich über fast alles offen reden. Aber es gibt ein Thema, das selbst in Therapiegruppen oft nur geflüstert wird, weil es so tief in unserer Identität verankert ist: die Zwangsstörung, die sich als Stärke tarnt.

Ich kenne die Hölle, wenn dein eigenes Gehirn zu deinem schlimmsten Feind wird. Das kaputte Radio im Kopf. Aber bei mir war der Gedanke, der sich in Endlosschleife wiederholte, nicht „Habe ich die Tür abgeschlossen?“. Bei mir war es: „Es muss eine Lösung geben.“

Es war der Zwang, digitale Grenzen zu sprengen. Neue Techniken bis zum Äußersten auszureizen und unmögliche Dinge in der IT auch in den aussichtslosesten Situationen trotzdem zu lösen. Von der Schulzeit an war es der riesige Drang, Bestenlisten nachzugehen. Im Berufsleben, wenn es um Statistiken ging, wer die erfolgreichste Arbeit, die unmöglichsten Ziele erreicht – ich musste dort oben stehen. Und ich schaffte es auch jedes Mal.

Dieser Zwang weitete sich aus, wurde zur Sucht nach Information. Ständiges Nachrichten lesen und scrollen, immer up to date sein, alles Wissen aufsaugen und nicht genug bekommen. Ich musste Google News mehrmals aktualisieren, in der Hoffnung, dass es endlich neuen Stoff (Lernstoff) für mein Wissen gibt.

Und wenn dieser innere Motor, dieser Zwang, zu heiß lief und die Erschöpfung kam, gab es nur eine Lösung, um den Lärm abzuschalten: den anderen Stoff.

Deine Sucht ist nicht das Problem. Deine Zwangsstörung ist nicht das Problem. Das Problem ist der Teufelskreis, in dem die Sucht zur vermeintlichen Medizin für den Zwang wird und der Zwang durch die Nebenwirkungen der Sucht immer lauter schreit. Aus diesem Gefängnis auszubrechen erfordert, beide Wärter gleichzeitig zu bekämpfen.


🎯 Die harten Fakten: Die unheilige Allianz von Zwang und Sucht

📊 Die harten Fakten in Zahlen: Die häufige, aber stille Doppeldiagnose

Die Kombination von Zwangsstörung (OCD) und Sucht ist ein klinisch relevantes Phänomen:

  • Hohe Komorbidität: Laut Studien im „Journal of Anxiety Disorders“ entwickelt etwa jeder vierte bis fünfte Mensch (20-30%) mit einer Zwangsstörung im Laufe seines Lebens auch eine Substanzgebrauchsstörung.
  • Alkohol als „Medikament Nr. 1“: Alkohol ist die mit Abstand am häufigsten genutzte Substanz zur Selbstmedikation von Zwangssymptomen, da seine angstlösende Wirkung eine kurzfristige Linderung der inneren Anspannung verspricht.
  • ERP als Goldstandard: Die Kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement (ERP) gilt weltweit als die wirksamste Behandlungsmethode für Zwangsstörungen. Studien zeigen Erfolgsraten von 60-80%.
  • Neurobiologische Grundlage: Man geht davon aus, dass bei Zwangsstörungen bestimmte Hirnschleifen (insbesondere der kortiko-striato-thalamo-kortikale Regelkreis) überaktiv sind. Das Gehirn bleibt in einer Art „Fehlermeldungs-Schleife“ hängen.

🔬 Wissenschaft: Was eine Zwangsstörung (OCD) wirklich ist

Eine Zwangsstörung hat nichts mit „pingelig sein“ zu tun. Es ist eine schwere neurobiologische Störung, die dein Gehirn kapert.

  • Zwangsgedanken (Obsessionen): Intrusive, sich aufdrängende Gedanken, die extreme Angst oder Anspannung auslösen. Dein Verstand weiß, dass der Gedanke übertrieben ist, aber er fühlt sich trotzdem real und bedrohlich an.
  • Zwangshandlungen (Kompulsionen): Die Rituale, die du ausführen MUSST, um die Angst des Zwangsgedankens zu neutralisieren.

Nicht nur Waschen & Kontrollieren:
Zwänge können sich auch rein mental oder als Leistungsdruck äußern. Beispiele sind der unstillbare Drang nach Informationen (ständiges Nachrichten-Scrollen auf der Suche nach neuem „Stoff“), der Zwang, immer der Beste sein zu müssen (die Jagd nach Bestenlisten), oder die Unfähigkeit, ein Problem ruhen zu lassen, bevor die „perfekte“ Lösung gefunden ist.


🎭 Der Teufelskreis: Wie die „Lösung“ den Zwang füttert

Ein Kopf als Käfig, in dem eine Figur in einem Hamsterrad aus Angst läuft. Symbol für die Endlosschleife aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen bei OCD.
Eine Zwangsstörung ist wie ein Gefängnis im eigenen Kopf, in dem dich deine eigenen Gedanken in einem endlosen Kreislauf gefangen halten.

Die vermeintliche Lösung „Droge“ wird schnell zum Brandbeschleuniger für die Zwangsstörung. Es ist ein perfekter, sich selbst erhaltender Teufelskreis.

⚠️ Der Teufelskreis: Wie Alkohol und Drogen den Zwang verstärken

Der Versuch, die Zwangsstörung mit Substanzen zu „behandeln“, ist wie Öl ins Feuer zu gießen. Es entsteht ein perfekter Sturm:

  1. Der Zwang erzeugt Angst: Der intrusive Gedanke löst massive Angst und Anspannung aus.
  2. Die Substanz betäubt die Angst: Alkohol oder Benzos wirken dämpfend und verschaffen kurzfristige, trügerische Erleichterung. Die Substanz wird zur neuen, schnelleren Zwangshandlung.
  3. Der Rebound-Effekt: Wenn die Wirkung der Substanz nachlässt, kehrt die Angst zurück – oft noch stärker als zuvor. Der „Kater“ oder Entzug erzeugt seinerseits massive Angstzustände.
  4. Der Zwang eskaliert: Dein Gehirn reagiert auf diese neue, verstärkte Angst mit noch intensiveren Zwangsgedanken und einem noch stärkeren Drang, Rituale auszuführen.
  5. Die Dosis muss steigen: Du brauchst nun mehr von der Substanz, um die eskalierte Angst UND die beginnenden Entzugserscheinungen zu bekämpfen. Der Weg in die Abhängigkeit ist vorprogrammiert.

🛡️ Safer Use: Der Ausbruchsplan aus dem doppelten Gefängnis

Eine Person springt mutig in ein Meer aus Angst, als Symbol für die Expositionstherapie (ERP) bei Zwangsstörungen.
Der einzige Weg aus der Angst ist der Weg hindurch. Expositionstherapie bedeutet, bewusst in die Angst zu springen, um zu lernen, dass man schwimmen kann.

Du kannst nicht eine Krankheit bekämpfen, während du die andere fütterst. Der einzige Ausweg ist eine integrierte Behandlung, die beide Störungen versteht und gleichzeitig adressiert.

🛡️ Safer Use: Der Ausbruchsplan aus dem doppelten Gefängnis

Du musst beide Wärter deines Gefängnisses gleichzeitig bekämpfen. Der Schlüssel ist eine integrierte Behandlung und radikale Selbstfürsorge.

  • Der Goldstandard (Exposition & Reaktionsmanagement – ERP): Die härteste, aber wirksamste Waffe gegen den klassischen Zwang. Du setzt dich der Angst aus und unterlässt das Ritual, um zu lernen, dass die Angst von allein wieder abklingt.
  • Die richtige Medikation (ärztlich!): Zur Behandlung von Zwangsstörungen werden oft hochdosierte SSRI-Antidepressiva eingesetzt. Sie sind keine Sucht, sondern eine medizinische Behandlung des „kaputten Radios“.
  • Integrierte Doppeldiagnose-Behandlung: Du brauchst einen Therapeuten oder eine Klinik, die BEIDES versteht. Eine reine Suchttherapie, die deine Zwänge als „Kontrollwahn“ abtut, wird scheitern.
  • Selbst-Management & Grenzen (Der persönliche Weg): Wie ich selbst gelernt habe, ist es entscheidend, die eigenen Grenzen zu erkennen. Setze dir bewusst kleine Ziele und plane kleine Schritte, anstatt dem Zwang nachzugeben, „alles sofort und perfekt“ lösen zu müssen. Akzeptiere, dass „gut genug“ eine Option ist. Wenn das Gehirn nach der unmöglichen, perfekten Lösung schreit, gib ihm eine kleinere, machbare Aufgabe. So verhinderst du den totalen Burnout, in dem die Sucht wieder leichtes Spiel hat.

🤔 Ausführliche FAQ

🤔 Bin ich einfach nur sehr ordentlich oder habe ich eine Zwangsstörung?

✅ Der Unterschied liegt im Leidensdruck und im Kontrollverlust. Macht es dir Freude, ordentlich zu sein, oder MUSST du es sein, weil du sonst massive Angst bekommst? Beschränken die Rituale dein Leben und rauben dir Stunden deiner Zeit? Wenn du unter deinen „Macken“ leidest, ist es wahrscheinlich mehr als nur eine Eigenschaft.

❤️ Was ist „Exposition und Reaktionsmanagement“ (ERP) genau?

✅ Es ist die wirksamste Therapieform bei Zwängen. Bei der Exposition setzt du dich bewusst dem aus, was deinen Zwang auslöst (z.B. eine Türklinke berühren). Beim Reaktionsmanagement unterlässt du danach die Zwangshandlung (Händewaschen). Dabei lernst du, dass die Angst von allein wieder abnimmt, auch ohne das Ritual. Du hackst das System deines Gehirns.

🧠 Sind meine Zwangsgedanken gefährlich (z.B. die Angst, jemanden zu verletzen)?

✅ Das ist eine der quälendsten Formen von Zwangsgedanken. Die überwältigende Mehrheit der Experten ist sich einig: Menschen mit solchen aggressiven Zwangsgedanken sind NICHT gefährlicher als die Allgemeinbevölkerung. Der Gedanke fühlt sich real an, aber er ist ein Symptom der Störung, kein echter Wunsch. Die Tatsache, dass du Angst vor dem Gedanken hast, ist der beste Beweis, dass du ihn nicht ausführen willst.

💪 Ich nehme SSRIs für meinen Zwang. Ist das nicht auch eine Sucht?

✅ Nein. Das ist ein fundamentaler Unterschied. SSRI-Antidepressiva erzeugen keine Toleranzentwicklung (du brauchst nicht immer mehr) und keinen Rausch. Sie regulieren die Hirnchemie auf eine therapeutische Weise. Man kann beim Absetzen Entzugserscheinungen haben (Absetzphänomene), aber das ist nicht dasselbe wie Sucht. Es ist eine ärztlich begleitete Behandlung, keine Selbstmedikation.

😔 Wo finde ich spezialisierte Hilfe für diese Doppeldiagnose?

✅ Suche gezielt nach „Klinik Doppeldiagnose Zwangsstörung“ oder „Therapeut KVT Zwang Sucht“. Die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. (DGZ) ist eine exzellente Anlaufstelle für Therapeutenlisten und Informationen. Auch große Suchtkliniken haben oft Erfahrung mit dieser spezifischen Komorbidität.

📚 Lesetipp zur Vertiefung

📖 Lesetipp zur Vertiefung

Der Kobold im Kopf: Die Zähmung der Zwangsgedanken von Lee Bear

Ein absoluter Klassiker und eines der besten Selbsthilfebücher zum Thema Zwangsstörungen. Lee Bear erklärt die Mechanismen des Zwangs auf eine extrem verständliche und entlastende Weise. Das Buch bietet zahlreiche, direkt anwendbare Übungen aus der Kognitiven Verhaltenstherapie, um den Kampf gegen den „Kobold im Kopf“ aufzunehmen.

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🎬 NeelixberliN Fazit

Alt-Text: Eine Hand, die den Lautstärkeregler an einem Gehirn-Radio leiser dreht, als Symbol für die erfolgreiche Bewältigung einer Zwangsstörung.
Heilung bedeutet nicht, das Radio in deinem Kopf komplett auszuschalten. Heilung bedeutet, zu lernen, dass du derjenige bist, der den Lautstärkeregler kontrolliert.

Mein Zwang, der Beste zu sein, hat mich weit gebracht. Aber gewonnen haben dadurch nur die Unternehmen, für die ich gearbeitet habe. Ich selbst bin daran zerbrochen. Der unstillbare Hunger meines Gehirns nach neuem „Lern-Stoff“ wurde zu einem unstillbaren Hunger nach dem anderen „Stoff“.

Ich habe gelernt, auch ohne Therapie, meine eigenen Grenzen zu setzen. Zu akzeptieren, dass ich nicht jedes Problem der Welt lösen muss. Dass kleine Ziele und kleine Schritte der einzige Weg sind, um nicht durchzudrehen, denn das Gehirn kann sonst irgendwann nicht mehr und macht Fehler. Und durch diese Fehler gewinnt man letztendlich nichts.

Heilung bedeutet nicht, dass die Zwangsgedanken für immer verschwinden. Heilung bedeutet, dass sie die Lautstärke verlieren. Dass sie vom brüllenden Diktator zu einem leisen, nervigen Hintergrundrauschen werden, dessen Lügen du nicht mehr glaubst. Du lernst, dem Radio nicht mehr zu gehorchen. Und diese Kontrolle ist die wahre Meisterschaft.


📖 Quellen & Referenzen

  • International OCD Foundation (IOCDF): Die weltweit führende Organisation für Informationen und Hilfe bei Zwangsstörungen.
  • Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. (DGZ): Die wichtigste Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige in Deutschland.
  • Journal of Anxiety Disorders: Führendes Fachjournal mit zahlreichen Studien zur Komorbidität von Zwangsstörungen und Sucht.
  • Abramowitz, J. S., Deacon, B. J., & Whiteside, S. P. H. (2019). Exposure Therapy for Anxiety, Second Edition: Principles and Practice. (Wissenschaftliches Grundlagenwerk zur Expositionstherapie).

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Über Gabriel Maetz

NeelixberliN teilt hier seine persönliche und ungefilterte Erfahrung auf dem Weg aus der Sucht. Nach Jahren der Abhängigkeit, unter anderem von Polamidon, kämpft er sich Tag für Tag zurück ins Leben. Dieser Blog ist sein persönliches Logbuch, eine Hilfe für sich selbst und hoffentlich auch eine stütze für andere, die einen ähnlichen Kampf führen.

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