Ein Artikel aus der “ Beziehungen & Recovery„-Serie von NeelixberliN
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Trigger-Warnung: Dieser Artikel behandelt die Themen Co-Abhängigkeit, emotionale Erpressung und die psychische Belastung von Angehörigen. Er richtet sich explizit an das Umfeld von suchtkranken Menschen.
Nach 28 Jahren Sucht & Recovery weiß ich eines sicher: Hinter jedem Süchtigen steht ein Schlachtfeld von Beziehungen. Ich war nicht der Einzige, der gelitten hat. Meine Sucht war eine Bombe, die im Leben meiner Familie, meiner Partnerinnen und meiner engsten Freunde explodiert ist. Sie haben gelogen für mich, sie haben mich gedeckt, sie haben meine Schulden bezahlt, sie haben gehofft, gebettelt, gedroht und geweint. Sie haben alles getan, um mich zu retten. Und sie haben dabei fast sich selbst verloren.
Dieser Artikel ist für euch. Für die Mütter, Väter, Partner, Geschwister und Freunde, die gerade zusehen, wie ein Mensch, den sie lieben, in der Sucht versinkt. Ich weiß, wie ihr euch fühlt: hilflos, wütend, schuldig und unendlich müde. Ihr seid die unsichtbaren Opfer dieser Krankheit.
Ich schreibe das hier aus der Perspektive des Überlebenden, des ehemaligen Verursachers dieses Schmerzes, um euch eine brutale, aber lebensrettende Wahrheit zu sagen: Ihr könnt uns nicht retten. Aber ihr könnt aufhören, uns beim Untergang zu helfen.
Deine Liebe allein wird einen Süchtigen nicht heilen – aber der Versuch kann dich zerstören. Der wichtigste Schritt, um wirklich zu helfen, ist zu lernen, wie du aufhörst, falsch zu helfen.
🎯 Die harten Fakten: Der unsichtbare Preis der Co-Abhängigkeit
📊 Die harten Fakten in Zahlen: Der Preis, den Angehörige zahlen
Die Belastung für das Umfeld von Suchtkranken ist messbar und immens:
- Millionen Betroffene: Schätzungen von Institutionen wie der DHS (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen) gehen davon aus, dass in Deutschland rund 8-10 Millionen Menschen als Co-Abhängige oder direkt mitbetroffene Angehörige von Suchtkranken gelten.
- Erhöhtes Krankheitsrisiko: Angehörige von Suchtkranken haben ein signifikant höheres Risiko, selbst an Depressionen, Angststörungen und stressbedingten körperlichen Erkrankungen (z.B. Bluthochdruck) zu leiden (Quelle: Studien im „Journal of Substance Abuse Treatment“).
- Kinder als Hauptleidtragende: Etwa 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen mit mindestens einem suchtkranken Elternteil auf. Sie haben ein bis zu sechsmal höheres Risiko, später selbst eine Sucht oder eine andere psychische Störung zu entwickeln.
- Wirksamkeit von Selbsthilfe: Studien zu Selbsthilfegruppen wie Al-Anon zeigen, dass Teilnehmer eine signifikante Verbesserung ihrer Bewältigungsstrategien, eine Reduktion von Ärger und eine verbesserte psychische Gesundheit erfahren.
🔬 Wissenschaft: Co-Abhängigkeit – Wenn Helfen zur eigenen Sucht wird
Co-Abhängigkeit ist keine Charakterschwäche, sondern ein erlerntes Verhaltensmuster, das oft in dysfunktionalen Familien entsteht. Es ist die Sucht, gebraucht zu werden und die Kontrolle über eine unkontrollierbare Situation behalten zu wollen.
- Das Krankheits-System: Die Sucht ist nicht nur das Problem des Süchtigen. Die ganze Familie entwickelt unbewusst Verhaltensweisen (das „Enabling“ des Co-Abhängigen, die „Heldenrolle“ eines Kindes etc.), um das dysfunktionale System im Gleichgewicht zu halten und nach außen zu schützen.
- Verlust der eigenen Identität: Der Co-Abhängige definiert seinen Selbstwert fast ausschließlich über den Zustand und die Bedürfnisse des Süchtigen. Eigene Hobbys, Bedürfnisse und Grenzen verschwinden.
- Toleranzentwicklung: Ähnlich wie bei einer Substanz, toleriert der Co-Abhängige immer schlimmeres Verhalten. Grenzen werden ständig verschoben, Lügen und gebrochene Versprechen werden zur Normalität.
- Angst vor Veränderung: Paradoxerweise kann der Co-Abhängige unbewusst Angst davor haben, dass der Süchtige clean wird, weil damit die eigene Rolle als „Retter“ und das gewohnte System zusammenbrechen würden.
🎭 Wenn Helfen schadet: Die Anatomie des „Enabling“

Jede Lüge, die du für uns erzählst, jede Konsequenz, die du uns abnimmst, ist ein weiterer Nagel in unserem Sarg. Es fühlt sich wie Liebe an, aber es ist das Füttern der Sucht. „Enabling“ ist der Fachbegriff dafür. Ich nenne es: Dem Monster, das deinen Liebsten auffrisst, das Steak servieren.
⚠️ Wenn Helfen schadet: Die brutale Wahrheit über „Enabling“
Jede der folgenden „Hilfsaktionen“ fühlt sich im Moment richtig an, verlängert aber in Wahrheit die Sucht und verhindert, dass der Süchtige seinen Tiefpunkt erreicht (den „Bottom“), der oft für eine Veränderung notwendig ist:
- Lügen & Decken: Du rufst beim Arbeitgeber an und meldest ihn „krank“, wenn er verkatert ist. Effekt: Er muss die beruflichen Konsequenzen nicht spüren.
- Finanzielle „Hilfe“: Du leihst ihm Geld für die „Miete“, obwohl du weißt, dass es für Drogen draufgeht. Effekt: Er muss die finanziellen Konsequenzen nicht spüren.
- Verantwortung übernehmen: Du übernimmst seine Aufgaben im Haushalt, kümmerst dich um die Kinder, räumst seine Kotze weg. Effekt: Er muss die sozialen Konsequenzen nicht spüren.
- Entschuldigen & Verharmlosen: Du entschuldigst sein aggressives Verhalten bei Freunden mit „Er hatte einen schlechten Tag“. Effekt: Er muss die emotionalen Konsequenzen seines Verhaltens nicht spüren.
Enabling ist das Entfernen aller Puffer, die das Leben für den Süchtigen bereithält, um ihn aufzuwecken. Du nimmst ihm die Chance, die schmerzhafte Realität zu spüren, die er braucht, um Hilfe zu suchen.
🛡️ Safer Use: Dein radikaler Akt der Selbstfürsorge

Aufzuhören, falsch zu helfen, ist der härteste, aber wichtigste Schritt. Es bedeutet, die eigene Sauerstoffmaske zuerst aufzusetzen. Das ist nicht egoistisch. Das ist überlebensnotwendig.
🛡️ Safer Use: Dein radikaler Akt der Selbstfürsorge
Aufhören zu enablen ist der härteste, aber wichtigste Schritt. Es erfordert radikale Selbstfürsorge.
Grenzen setzen wie ein Profi (konkrete Skripte):- Statt „Du trinkst schon wieder!“: „Ich liebe dich, aber ich werde keine Zeit mit dir verbringen, wenn du getrunken hast, weil dein Verhalten mich verletzt. Bitte geh jetzt. Du kannst dich melden, wenn du nüchtern bist.“
- Statt „Wo warst du die ganze Nacht?“: „Ich mache mir Sorgen, aber ich werde nicht mehr die ganze Nacht auf dich warten. Ich werde mein Telefon auf lautlos stellen, um schlafen zu können. Das ist für meine Gesundheit.“
- Statt Geld zu geben: „Ich liebe dich, aber ich werde dir kein Geld mehr geben, weil ich weiß, dass es deiner Krankheit hilft und nicht dir. Ich kann dir aber anbieten, dich zu einer Suchtberatung zu fahren.“
Dein Mantra: Die 3 K’s
- Krankheit: Ich habe die Sucht nicht verursacht.
- Kontrolle: Ich kann die Sucht nicht kontrollieren.
- Kurieren: Ich kann die Sucht nicht heilen.
Dein Notfallplan:
- Dein Job ist nicht, den Therapeuten zu spielen. Dein Job ist es, im akuten Notfall (Überdosis, Suizidandrohung) die Profis zu rufen: Wähle die 112. Gib die Verantwortung ab.
🤔 Ausführliche FAQ
🤔 Mache ich es schlimmer, wenn er droht, sich etwas anzutun, nachdem ich eine Grenze setze?
✅ Das ist emotionale Erpressung und ein Zeichen höchster Not. Deine Grenze ist trotzdem richtig. Die korrekte Antwort ist: „Ich liebe dich, und genau weil ich dich liebe, werde ich dieses Verhalten nicht mehr unterstützen. Wenn du dir ernsthaft etwas antun willst, ist meine Verantwortung, jetzt den Notarzt (112) für dich zu rufen.“ Damit bleibst du bei deiner Grenze und übergibst die Verantwortung an die Profis.
❤️ Er/Sie verspricht immer, aufzuhören, wird aber immer wieder rückfällig. Soll ich noch glauben?
✅ Glaube an das Potenzial der Person, aber nicht mehr blind an ihre Worte. Sucht ist eine Krankheit der Rückfälle. Achte auf Taten, nicht auf Versprechen. Ist er/sie bereit, eine Beratung aufzusuchen? Geht er/sie zu einer Gruppe? Knüpfe deine Unterstützung an konkrete, überprüfbare Schritte.
🧠 Was ist der Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid?
✅ Mitgefühl sagt: „Ich sehe deinen Schmerz und ich bin für dich da, aber du musst deinen Weg selbst gehen.“ Es respektiert die Stärke des anderen. Mitleid sagt: „Oh, du armer, hilfloser Mensch, lass mich das für dich tragen.“ Es entmündigt den anderen und macht ihn klein. Mitgefühl ist heilsam, Mitleid ist oft eine Form von Enabling.
😔 Er/Sie manipuliert mich ständig. Wie erkenne ich das?
✅ Typische manipulative Taktiken sind: Schuldumkehr („Ich trinke nur, weil du so nörgelst!“), emotionale Erpressung (Suizidandrohungen), Gaslighting (dir einreden, du seist verrückt oder übertreibst) und das Ausspielen von Helfersyndromen. Wenn du dich nach einem Gespräch konsequent schuldig, verwirrt oder verantwortlich fühlst, wirst du wahrscheinlich manipuliert.
🛡️ Wo finde ich als Angehöriger selbst Hilfe?
✅ Du brauchst dein eigenes Support-System. Die wichtigsten Anlaufstellen sind Selbsthilfegruppen speziell für Angehörige wie Al-Anon (für Alkohol), Nar-Anon (für Drogen) und CoDA (für Co-Abhängige). Auch lokale Suchtberatungsstellen bieten kostenlose und anonyme Beratungen für Angehörige an. Du musst das nicht allein durchstehen.
🎬 NeelixberliN Fazit

Ich beende diesen Artikel mit einer Entschuldigung und einem Dank. Eine Entschuldigung an alle Menschen, die ich in meiner aktiven Sucht mit in meinen Abgrund gerissen habe. Es tut mir leid. Und ein Dank an die, die irgendwann den Mut hatten, mich loszulassen. Die aufgehört haben, meine Lügen zu decken und mir die Konsequenzen meines Handelns zugemutet haben.
Ihr habt mir damals nicht das Gefühl gegeben, mich zu lieben. Es fühlte sich an wie Verrat. Heute weiß ich: Es war der größte Liebesbeweis von allen. Ihr habt mich fallen lassen, damit ich die Chance hatte, meinen eigenen verdammten Boden zu finden. Ohne euch wäre das nicht möglich gewesen.
An alle, die das hier lesen und gerade in dieser Hölle stecken: Hört auf zu strampeln. Hört auf, für den Süchtigen zu ertrinken. Rettet euch selbst. Baut euer eigenes, stabiles Floß. Nur dann, wenn ihr sicher seid, habt ihr vielleicht irgendwann die Kraft, einen Rettungsring zuzuwerfen – aber nur, wenn der andere bereit ist, danach zu greifen. Das ist nicht eure Entscheidung. Eure einzige Verantwortung ist, nicht mit unterzugehen.