Die meisten Berliner leben jenseits des S-Bahnrings. Zwei Reporter von rbb|24 sprechen dort mit Passanten am Späti und fragen nach ihren Gedanken und Lebensumständen. Heute im Fokus: ein 21-jähriger Mann aus Prenzlauer Berg, der von seinem Abstieg in die Kriminalität und Drogenabhängigkeit berichtet.

Mit den Ergebnissen der Gespräche, die unter dem Titel „Am Späti“ entstanden sind, möchte rbb|24 verschiedene Sichtweisen beleuchten und dokumentieren, ohne dabei zu urteilen oder zu analysieren. Die Protokolle spiegeln die Meinungen der Gesprächspartner wider.

Vom Prenzlauer Berg in die Kriminalität: Ein 21-Jähriger erzählt am Späti von Drogen, Raub und Deutschrap als falschem Vorbild. Wie prägte ihn seine unkonventionelle Kindheit im Osten Berlins?

Wer: Ein junger Mann aus Prenzlauer Berg
Alter: 21 Jahre
Uhrzeit: 15:51 Uhr
Gekauft: Eine Packung Zigaretten
Woher: Von zu Hause
Wohin: Nach Hause
Späti: Ein Späti in einer Nebenstraße in Weißensee, vor dem Geschäft laden zwei Bänke zum Verweilen ein.

Bevor das Gespräch beginnt, kaut er eine Tablette und spült sie mit Wasser hinunter, während er sich eine Zigarette anzündet.

„Ich bin in Prenzlauer Berg geboren – ohne Hebamme. Sie kam zu spät. Das ist kein Witz. Meine Mutter wollte eine Hausgeburt, aber es gab nicht mehr genug Zeit. Mein Vater hat es zum Glück irgendwie hinbekommen und hat genau das gemacht, was er machen sollte. Das hat die Hebamme später bestätigt. Sie kam noch zum Feiern vorbei, war aber während der Geburt nicht dabei.“

Er lacht.

„Das Haus stand an der Prenzlauer Allee. Nebenan war früher ein Norma. Ich denke, das könnte eine interessante Geschichte für euch sein. Unsere ganze Familie lebte dort: meine Eltern, meine Tante, mein Onkel und viele Freunde. Niemand wollte dort wohnen, schließlich war es der Osten. Die Leute haben einfach die Türen aufgerissen, und Familie sowie Freunde haben dort gelebt. Die Türen waren immer offen, und ich bin oft zu meiner Tante rübergelaufen; mein Onkel schaute dort immer fern.“

„Der Vermieter bemerkte erst nach einigen Jahren, dass wir alle dort wohnen. Er bot uns dann sehr günstige Mietverträge an. Doch irgendwann wollte er uns loswerden, um die Wohnungen teurer vermieten zu können. Irgendwann hat mein Vater gut Geld verdient und eine Wohnung gekauft – in der Voltastraße, nahe dem Mauerpark. Dort sind wir hingezogen, als ich vier war. Allerdings haben sich meine Eltern kurz darauf getrennt, und ich kehrte zurück nach Prenzlauer Berg.“

Rückblick auf eine normale Kindheit und die Abwege

„Meine Kindheit war eigentlich ganz gewöhnlich. Ich wurde 2002 geboren und es war schön und entspannt, nichts Schlimmes oder Gefährliches. Dennoch habe ich später die Schule geschmissen und mich daneben benommen. In Prenzlauer Berg gibt es viele, die Mist bauen. Heutzutage ist Deutschrap total angesagt. Ich habe das schon früher gehört und fand es cool, was dazu führte, dass ich auch anfing, Unsinn zu machen. Das hat mir wirklich einige Probleme eingebracht. Hätte ich mir nicht solche Gangster-Vorbilder genommen, hätte ich sicher andere Wege eingeschlagen.

Bereits in der Grundschule war ich der Klassenclown. Alles begann, als ich zum ersten Mal kiffte. Das Thema Legalisierung lasse ich mal außen vor… irgendwie zweifle ich daran. Meine Freunde haben gekifft, und ich stand jahrelang daneben – ich hielt das für völligen Quatsch. Damals habe ich nicht verstanden, wie man zehn Euro für ein Gefühl ausgeben kann. Ich dachte mir: Warum nicht davon etwas zu essen oder tolles Spielzeug kaufen? Mit 12 Jahren habe ich es dann doch einmal ausprobiert, was zu extremer Paranoia führte. Ich dachte, ich könnte das nicht vertragen und würde einen Schaden davontragen. Mit 14 oder 15 begann ich dann erneut, und ab diesem Zeitpunkt brach ich die Schule ab.

Zehn Euro pro Tag waren nicht wirklich ausreichend. Damit konnten wir uns zwei Joints kaufen. Wir wollten den Tag irgendwie herumkriegen. Wenn ich heute kleine Kinder sehe, die andere ausrauben, denke ich mir: Wenn sie wüssten, welche Strafe sie bei Raubdelikten erwarten würde

Zehn Euro pro Tag waren nicht wirklich ausreichend. Damit konnten wir uns zwei Joints kaufen. Wir wollten den Tag irgendwie herumkriegen. Wenn ich heute kleine Kinder sehe, die andere ausrauben, denke ich mir: Wenn sie wüssten, welche Strafe sie bei Raubdelikten erwarten würde… Ich habe das schon in meiner Jugend gemacht. Damals fand ich es irgendwie spannend. Zuerst dachte ich: Oh nein, die armen Leute, wie würde ich das meiner Mutter erklären? Ich hatte Mitleid. Später war ich dann selbst beteiligt, wollte mich beweisen und brauchte natürlich Geld zum Kiffen. Heute denke ich, dass es einfach schamlos und unnötig ist, irgendwen auf der Straße auszurauben. Schließlich hat diese Person eigentlich nichts mit so einer Welt zu tun.“

Der Weg in die Kriminalität und die Folgen

„Eine Zeit lang habe ich Winterjacken, Geld oder Gras abgezogen – das war so mit 15 oder 16 Jahren. Raub ist eine schlimme Straftat, und zwei meiner Freunde sind dafür ins Gefängnis gegangen. Deshalb habe ich damit dann aufgehört. Eine Zeit lang habe ich auch Postbetrug gemacht, was viele in Berlin kennen. Das lief hier früher besser.“

Auf die Frage, ob er je bestraft wurde, lacht er verhalten. „Das war ehrlich gesagt nur meine Anfangskarriere. Ich bereue das, aber andererseits…“

Er zögert und fährt dann fort: „Manchmal ist man stolz, weil man von anderen eine Art Bewunderung bekommt. Nicht von jedem, natürlich, einige denken, das sei Abschaum – und das ist es ja auch. Heute habe ich volles Mitleid, dass ich jemanden im Winter ohne Winterjacke nach Hause geschickt habe. Ich war damals echt ein Arschlochkind.“

„Stimmt, ich habe vergessen zu erwähnen! Mit 15 habe ich auch kurzzeitig Einbrüche gemacht. Wir sind in Schulen und auch in einen Laden eingebrochen. Ich und meine Freunde haben in der Schule mal 1.000 und 1.100 Euro gefunden. Das war echt ein cooler Abend. Wir waren damals 15 oder 16 und sind zur Kurfürstenstraße zu einer Prostituierten gegangen und haben dort gekifft – das war für mich einer der besten Tage in meinem Leben.“

„Danach kam der Medikamentenhandel und die Dokumentenfälschung mit Rezepten. Die habe ich dann in der Apotheke eingelöst, hauptsächlich Tilidin und Alprazolam. Ich habe es auch selbst genommen, was meine Sucht weiter vorangetrieben hat. Aber ich konnte mir damit auch richtig Geld ansparen. Ich habe im Monat zwischen 15.000 und 18.000 Euro gemacht. Das war nicht mein Gewinn, das war der Umsatz. Ich habe alles in einer Liste notiert. Moment.“

Er zündet sich eine weitere Zigarette an. „Das mit den Rezepten habe ich später sein lassen. Es war einfach nervig, jeden Tag bei zehn Apotheken anzurufen und hinzufahren. Es wurde auch komisch, dass immer der gleiche Arzt auf den Rezepten stand. Klar, ich habe die Apotheke ständig gewechselt, aber es sah schon seltsam aus, wenn ein Jugendlicher Medikamente für Krebskranke abholte.“

„Fentanyl ist ein Opioid. Es handelt sich um Schmerzpflaster und die Droge, von der in Amerika, zum Beispiel in Philadelphia, viele wegschlafen. Ich habe hauptsächlich Oxycodon und Fentanyl verkauft. Das ist irgendwie moralisch fragwürdig. Aber ich habe selbst Oxy genommen, also habe ich mein eigenes Suchtproblem. Bei den Fenta-Kunden hatte ich richtig Mitleid. Ich wusste, die zerschneiden die Pflaster und rauchen die dann auf Alufolie.“

Der Kampf gegen die Sucht und der Wunsch nach Veränderung

„Oxy und Heroin sind fast auf dem gleichen Level. Ich habe eine Oxy-Sucht – das war die Tablette, die ich vorhin genommen habe. Fentanyl ist 50- bis 100-mal stärker als Heroin, und deshalb ist der Entzug auch nochmals viel heftiger. Ich nehme Oxy jetzt seit einem Jahr, habe aber auch einen Termin für die Entgiftung.“

Er atmet tief ein. „Ich will aufhören, es kann nicht so weitergehen. Der Opioid-Entzug ist extrem schwer. Der körperliche Entzug ist das eine, aber der psychische kann sehr lange bleiben – so lange, dass du ohne die Droge nicht mehr glücklich sein kannst. Wenn ein Oxy-Kunde kam und meinte, er möchte Fentanyl mal ausprobieren, habe ich immer gesagt: ‚Nein, nicht bei mir.‘ Ich gebe das nur an Leute, die schon süchtig danach waren. Die sind dir dann auch dankbar, weil sie es brauchen, die sind am Verrecken.“

Seine Stimme wird schneller. „Es läuft nicht mehr so gut wie früher, weil mein Telegram-Account gelöscht wurde. Vor ein paar Monaten wurde der Gründer von Telegram in Frankreich verhaftet, und zwei Wochen später wurden viele große Accounts gelöscht. Ich hatte alles – Visitenkarten, 15.000 bis 18.000 Euro im Monat von den Kleinkunden. Ich bin immer nach Polen gefahren, da kosten die Oxys nur 50 Euro. Hier kosten die Schachtel 400 in der Apotheke. Du verkaufst sie dann für 1.000 oder 1.500 Euro.“

Er redet mit wachsender Aufregung über seine Geschäfte. Gerade sprach er noch in der Vergangenheit, doch jetzt wird klar, dass er auch heute noch aktiv ist. „Als mein Account gelöscht wurde, habe ich wieder mit Einbrüchen angefangen. Das mache ich jetzt nicht mehr. Vor ein paar Tagen hat meine Mutter einen Anruf bekommen. Sie haben gesagt, dass sie ermitteln, wegen irgendwas mit langen Strafen. Ich wurde vorgestern mit Haftbefehl für den Arrest abgeholt.“

Er zieht ein Papier aus seiner Tasche. „Ich habe jetzt so einen Entlassungsschein wegen der Medikamente. Ich konnte den Arrest nicht antreten, weil sie mir das drinnen nicht geben können. Im richtigen Gefängnis in Moabit geht das, aber nicht in der Arrestanstalt in Lichtenrade. Da haben sie nur montags einen Arzt. Kalter Entzug ist gefährlich, deswegen wurde ich wieder rausgeschickt. Sie meinen, ich soll diesen Arrest antreten.“

Er schaut auf sein Handy, das das Gespräch aufnimmt. „Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Sie können mir gleich noch normale Fragen stellen – ich kriege einen Laber-Flash.“

Er lacht leise. „Ich sage nicht, dass ich schwierig aufgewachsen bin. Natürlich gab es ein paar Probleme, aber die hat ja jeder. Es waren eher falsche Entscheidungen und jugendliche Dummheit, wie ich da reingeraten bin. Ich will clean werden von dem Oxy. Ich habe jetzt auch schon einen Termin. Mein erstes Ziel: erstmal zurück zu Tilidin, und dann kann ich über Aufhören nachdenken.“

Auf die Frage, wie es weitergehen soll, antwortet er nachdenklich: „Ich bin ein bisschen trotzig und perspektivlos. Ich habe ehrlich gesagt kein Interesse an einer Ausbildung. Ich würde gerne selbstständig sein oder so etwas. Mir hat bis jetzt immer nur Spaß gemacht, was Adrenalin bringt. Daher wäre ich gerne Polizist oder bei der Bundeswehr. Da machst du jeden Tag was anderes, rennst Leuten hinterher, musst sie packen. Wenn irgendwo Blaulicht ist, schaut jeder hin. Als Polizist bist du immer da, wo das Geschehen ist, und wirst von einem Ding zum nächsten gerufen – 24/7, immer etwas Neues.“

Der Betreiber des Späti verlässt seinen Laden und grüßt ihn freundlich. „Hallo Chef!“

Als der Chef ein paar Schritte weiter gegangen ist, lacht er leise und murmelt: „Er kennt auch meine Mutter, aber der weiß natürlich nicht alles.“

„Meine Wünsche fürs nächste Jahr? Dass ich wegkomme vom Oxy, dass ich gut für meine Mutter da bin. Das Verhältnis ist zurzeit ganz gut, und das soll so bleiben. Ich möchte meine Sachen auf die Reihe kriegen, denn ich mache meiner Mutter auch Sorgen.“

Er schaut nachdenklich. „Mein Leben… Ich habe Spaß, es ist aufregend, aber es gibt auch sehr viel Negatives. Ich wünsche mir einfach, dass alles gut läuft und schön wird.“

Das originale Gespräch wurde von Jonas Wintermantel für rbb|24 geführt.

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