Zwei Mitarbeiter der Drogenberatung Misfit in Berlin-Kreuzberg erläutern, warum der Drogenkonsum sichtbarer geworden ist und welche Ansätze sie für eine sinnvolle Drogenpolitik sehen.

Die Drogen- und Suchtberatung Misfit befindet sich in einem Seitenflügel der Muskauer Straße in Berlin-Kreuzberg. Die Räume sind freundlich und hell. Wir sprechen mit Nina Pritszens, der Geschäftsführerin, und Tizian Keßler, dem Leiter der Beratungsstelle. Wie hat sich der Drogenkonsum in Berlin in den letzten Jahren verändert, möchten wir von ihnen wissen.

Frau Pritszens, Herr Keßler, als ich vor zehn Jahren mit einem Mitarbeiter Ihrer Einrichtung sprach, erzählte er, dass er zu 50 Prozent mit Heroinabhängigen arbeitet, während die anderen 50 Prozent aus Konsumenten von Ecstasy, Amphetaminen und Kokain bestehen. Ist das heute noch so?

Tizian Keßler: Definitiv. Heroin ist noch weiter in den Hintergrund gerückt. In Kreuzberg-Friedrichshain sind die häufigsten Substanzen, mit denen wir es zu tun haben, vor allem Kokain, THC, also Cannabis, und Amphetamine. Zudem nehmen die neuen psychoaktiven Substanzen deutlich zu.

Nina Pritszens: Dass die Zahl der Heroinabhängigen in unseren Beratungsstellen zurückgeht, bedeutet jedoch nicht, dass der Heroingebrauch gesunken ist. Diejenigen, die heroinabhängig sind, werden heute noch stärker ausgegrenzt als vor zehn oder fünfzehn Jahren. In der Vergangenheit gab es in Friedrichshain-Kreuzberg noch Heroinabhängige, die in kleinen, nicht renovierten Erdgeschoßwohnungen lebten; heute leben viele von ihnen viel prekärer und sind häufig wohnungslos. Angesichts des Wohnungsmangels ist die Frage, ob man sich eine Wohnung leisten kann oder in die Außenbezirke ziehen muss, irrelevant geworden – viele haben einfach keine Wohnung mehr. Man sieht diese Menschen am Kottbusser Tor oder sie schlafen im Görlitzer Park. Sie werden aus Bahnhöfen und Parks vertrieben. Niemand möchte sie dort haben.

Nina Pritszens, 46, ist seit sechs Jahren Geschäftsführerin bei Vista, einem Verbund für integrative soziale und therapeutische Arbeit, der Beratungsstellen in neun Berliner Bezirken betreibt. Sie war vorher in der Bereichsleitung und auch als Drogenberaterin tätig. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin, bereits im Studium hat sie ihren Schwerpunkt auf Suchterkrankungen gelegt.

Gibt es also einen Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Obdachlosigkeit?

Tizian Keßler ist 30 Jahre alt und arbeitet seit vier Jahren bei Vista. Seit Sommer 2024 leitet er die Drogen- und Suchtberatung Misfit in Berlin-Kreuzberg. Er hat einen Studienabschluss als Sozialarbeiter.

Nina Pritszens: Dieser Zusammenhang hat schon immer bestanden, aber die Situation wird zunehmend angespannter. Bei Opiat-Süchtigen liegt der Sucht oft ein traumatisches Erlebnis zugrunde, finanzielle Probleme spielen eine Rolle und können die Wohnungslosigkeit verschärfen. Es entsteht ein Kreislauf: Wohnungslos zu sein und gleichzeitig sein Suchtproblem in den Griff zu bekommen, ist nahezu unmöglich. Alkohol und andere Drogen werden häufig als Bewältigungsmechanismen genutzt, um das harte Leben auf der Straße ertragen zu können.

Sie sprachen eben über THC, also Cannabis, und dessen Konsumenten in Ihrer Beratung. Gibt es nach wie vor das Risiko, dass THC Psychosen auslösen kann?

Tizian Keßler: Ja, THC kann Psychosen auslösen, jedoch ist das nicht das Hauptanliegen in unserer Beratung. Vielmehr geht es häufig um übermäßigen Konsum oder um Situationen, in denen Menschen konsumieren, obwohl sie es eigentlich nicht möchten. Es ist entscheidend, dass alle Konsumenten einen Raum haben, in dem sie offen über ihren Konsum sprechen können, ohne Angst vor Bewertungen oder Verurteilungen. Das bringt viele Menschen große Erleichterung.

Wie stehen Sie zur Legalisierung von Cannabis?

Tizian Keßler: Wir betrachten die Legalisierung als einen Fortschritt. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Konsum vollkommen unproblematisch ist, denn das gilt auch für Alkohol.

Die Legalisierung von Cannabis bedeutet also keine Empfehlung für den Konsum?

Nina Pritszens: Genau, das muss man differenziert betrachten. Anstatt auf Verbote zu setzen, fördern wir eine Regulierung von Cannabis. Es ist positiv, dass Menschen nicht mehr aufgrund ihres Konsums kriminalisiert werden. In unseren Gesprächen mit Jugendlichen und in Schulen wird deutlich, wie wichtig es ist, Tabus abzubauen, damit wir frühzeitig über problematischen Konsum sprechen können. Bei der Legalisierung sollte man jedoch nicht den Fehler machen, dies als Einladung zum Konsum zu verstehen. Es geht darum, Erwachsenen einen moderaten Konsum zu ermöglichen und Probleme durch Beratung und möglicherweise Therapie anzugehen, nicht durch strafrechtliche Maßnahmen.

Wären Sie auch dafür, dass andere Drogen auf ähnliche Weise reguliert werden?

Nina Pritszens: Aus meiner Sicht wäre das sinnvoll. Die öffentliche Debatte darüber ist jedoch unerlässlich. Auch Alkohol sollte reguliert werden. Ich befürworte kein Verbot, aber wir benötigen ein Werbeverbot, zum Beispiel bei Sportveranstaltungen. Es ist absurd, dass bei Fußballübertragungen, die viele junge Männer anziehen, in den Pausen für Bier geworben wird. Das heißt jedoch nicht, dass man bei einem Treffen nicht auch mal zwei Gläser Wein oder Bier genießen kann. Deutschland ist ein Hochkonsumland bezüglich Alkohol und Tabak, dennoch tun wir oft so, als wäre das Ziel ein asketisches Leben. Das entspricht jedoch nicht der Realität. Wir brauchen einen ehrlichen Umgang mit diesem Thema.

Wie könnte ein differenzierter Umgang mit Drogen aussehen?

Nina Pritszens: Der idealste Fall wäre, ganz auf das Rauchen zu verzichten. Aber wenn jemand ein starker Raucher ist und nicht ganz aufhören kann, kann es sinnvoll sein, auf E-Zigaretten umzusteigen. Das gesellschaftliche Verständnis für solche Zwischenschritte ist jedoch oft noch nicht gegeben. Wir neigen dazu, sehr eindimensional über Konsum zu sprechen, ohne alternative Ansätze oder schrittweise Reduktionen zu akzeptieren.

Hat die Bedeutung von Chemsex zugenommen?

Tizian Keßler: Ja, das Phänomen wurde in der Vergangenheit bereits praktiziert, ist aber in den letzten Jahren zunehmend auffällig geworden. Besonders häufig spielt es sich im Kontext von sexuellen Interaktionen zwischen Männern ab.

Was können Sie über neue psychoaktive Substanzen berichten?

Nina Pritszens: Als ich anfing, waren nur wenige Substanzen bekannt und verbreitet. In den letzten zehn Jahren haben wir jedoch gesehen, dass immer wieder neue Substanzen auf den Markt kommen. Der Drogenmarkt hat sich enorm diversifiziert, und auch die Vertriebswege haben sich, vor allem durch das Internet, erheblich verändert. Heutzutage kann man Drogen bequem online bestellen, ähnlich wie man Schuhe bei einem Online-Shop kauft. Das reicht von harmlosen bis hin zu hochgefährlichen Substanzen.

Wie erfolgt der Versand dieser Drogen?

Tizian Keßler: Sie kommen entweder per Post oder durch Kuriere vor die Haustür. Der Vertriebsweg ist viel unkomplizierter geworden. Früher war es oft notwendig, jemanden zu kennen, der Zugang zu Drogen hatte. Das ist heute nicht mehr notwendig.

Hat der Drogenhandel sich verändert?

Nina Pritszens: Ja, der Handel hat sich professionalisiert. Kundenbewertungen und verschiedene Produktvariationen sind jetzt üblich. Für synthetische Opioide beispielsweise gibt es Shops, die eine Vielzahl an Varianten anbieten, indem sie lediglich kleine chemische Änderungen vornehmen, um die rechtlichen Rahmenbedingungen zu umgehen. Das ist ein Grund, warum Verbote oft nicht effektiv sind. Der Markt findet immer wieder neue Wege, und aus diesem Grund bieten wir auch Drugchecking an, um die Qualität und Sicherheit der Substanzen zu überprüfen.

Woher kommen die Drogen?

Nina Pritszens: Rein synthetische Drogen können an vielen Orten produziert werden, auch unter weniger technischen Bedingungen.

Wie sieht es mit der Verbreitung von Crystal Meth aus?

Nina Pritszens: Crystal Meth hat in Berlin nie eine große Welle ausgelöst, jedoch bleibt es schwierig, die genaue Verbreitung zu bestimmen, da es sich um einen illegalen Markt handelt. Berlin hat erst seit einigen Jahren ein wachsendes Crack-Problem, was möglicherweise mit der Verfügbarkeit und den niedrigeren Preisen von Kokain, das derzeit weit verbreitet in Europa ist, zusammenhängt.

Wie erfolgreich ist ein Entzug?

Tizian Keßler: Ein Entzug besteht zunächst aus der körperlichen Entgiftung. Darauf folgt idealerweise eine Entwöhnungsbehandlung oder längere Therapie, die notwendig ist, um eine nachhaltige Veränderung zu erreichen.

Wie ist die Situation bezüglich Entzugsbetten?

Nina Pritszens: Es gibt definitiv zu wenige Entzugsbetten. Die praktische Realität zeigt uns, dass es oft lange Wartezeiten gibt. Und die Anforderungen, um einen Platz zu erhalten, können für hilfesuchende Menschen sehr hoch sein.

Wie alt sind die Menschen, die Ihre Beratungsstelle aufsuchen?

Tizian Keßler: In der Regel sind die Klienten durchschnittlich Mitte 30 und überwiegend Männer.

Welche Substanzprobleme haben junge Menschen?

Nina Pritszens: In der Zeit nach der Corona-Pandemie haben wir bei sehr jungen Menschen beobachtet, dass sedierende Drogen konsumiert werden. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Substanzkonsum auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Lage ist.

Welche Gesellschaft spiegelt denn der Substanzkonsum derzeit?

Nina Pritszens: Der Konsum ist sehr divers und spiegelt verschiedene gesellschaftliche Realität wider. Es gibt Menschen, die leistungsstark und funktional sein möchten, die durch Drogenkonsum versuchen, ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Auf der anderen Seite stehen viele, die unter enormem sozialen und psychischen Druck leiden und die ihre Lebenssituationen ohne Drogen kaum ertragen können. Diese Gegensätze zeigen, dass Teile unserer Gesellschaft in schweren Nöten sind, wobei der Drogenkonsum oft ein Symptom dieser Nöte ist.

Wie kommt es zu dem ungleichen Geschlechterverhältnis?

Nina Pritszens: Das ungleiche Geschlechterverhältnis im Drogenkonsum ist zum Teil soziokulturell bedingt. Männer nehmen oft eher Risiken auf sich und konsumieren eher Drogen als Frauen. Allerdings zeigen emanzipierte Frauen ebenfalls ein risikobehaftetes Konsumverhalten. Auch die gesellschaftlichen Wahrnehmungen unterscheiden sich: Frauen, die exzessiv konsumieren, werden oft stärker stigmatisiert als Männer, was auch zu einer geringeren Offenheit führen kann.

Repression oder Verdrängung – was ist die Lösung?

Tizian Keßler: Es ist eindeutig, dass Repression und Verdrängung nicht die Lösung für das Drogenproblem sind. Diese Strategien ignorieren die zugrunde liegenden Ursachen und verschieben lediglich die Probleme. Die Menschen werden nicht einfach verschwinden, wenn Parks eingezäunt oder Polizisten patrouillieren, sondern sie werden sich nur in andere, weniger sichtbare Bereiche zurückziehen. Es ist notwendig, die Ursachen des Drogenkonsums zu adressieren, was Zeit und Einsatz erfordert.

Was passiert mit Abhängigen, wenn öffentliche Räume wie Parks eingezäunt werden?

Nina Pritszens: Wenn Parkanlagen für Drogenkonsumenten unzugänglich gemacht werden, suchen sie sich einfach andere Orte, wie beispielsweise Hausflure. Dies verschiebt die Probleme oft nur und führt zu einer erhöhten Belastung für Anwohner und die öffentliche Ordnung. Die Menschen in Not müssen adäquate Hilfen und Notunterkünfte zur Verfügung gestellt bekommen, um die Situation nachhaltig zu verbessern.

Wie kann eine effektive Drogenpolitik aussehen?

Tizian Keßler: Ich würde flächendeckend Drugchecking-Services anbieten, um Konsumenten zu schützen. Es ist nötig, genügend Beratungsstellen und niedrigschwellige Gesundheitsangebote zu schaffen. Wir müssen auch den Zugang zu Wohnraum, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung fördern.

Nina Pritszens: Darüber hinaus würde ich alle Drogen in Fachgeschäfte mit geschultem Personal regulieren, um den Konsum zu kontrollieren. Alkohol sollte nicht so einfach zugänglich sein, und ich würde die Steuern erhöhen, um das Hilfesystem zu finanzieren. Es ist wichtig, dass die Industrie sich an den Kosten, die durch Drogenprobleme entstehen, beteiligt. Präventionsmaßnahmen sollten bereits in der Schulen beginnen, um die Menschen frühzeitig zu sensibilisieren.

Wird es trotz dieser Maßnahmen weiterhin problematischen Konsum geben?

Nina Pritszens: Ja, das ist sehr wahrscheinlich. Aber durch offene und ehrliche Diskussionen können wir als Gesellschaft Proaktivität zeigen. Viele Menschen haben große Schwierigkeiten, die Hilfe zu suchen, weil sie sich schämen oder Angst vor Stigmatisierung haben. Ein anderer Diskurs, der die Menschlichkeit in den Vordergrund stellt und nicht verurteilt, ist dringend notwendig.

Wie wirkt sich die Sparpolitik auf die Suchthilfe aus?

Nina Pritszens: Obwohl die Sparmaßnahmen die Suchthilfe nicht so stark betreffen wie andere Bereiche, führen steigende Kosten und Gehälter automatisch zu einer Budgetbelastung. Die Möglichkeit, zu sparen, besteht oft nur in Form von Personalabbau, was direkte Auswirkungen auf die Anzahl der Menschen hat, die in unserer Beratung Unterstützung erhalten können. Ein gut funktionierendes Hilfesystem braucht ausreichend Personal, um effektiv arbeiten zu können.

Das originale Interview ist von Susanne Lenz / Berliner Zeitung.

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